Proteste in Brasilien: Das Land der Zukunft verzweifelt an sich selbst

Nr. 12 –

Millionen Menschen gehen seit Wochen auf die Strasse und fordern die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff – Brasilien radikalisiert sich. Doch im Schlamassel wird etwas Positives oft übersehen.

Es ist die Geschichte eines Abstiegs. Atemberaubend in seiner Geschwindigkeit und schwer nachvollziehbar. Brasilien, siebtgrösste Volkswirtschaft der Welt, noch vor wenigen Jahren als die Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts gefeiert, taumelt illusionslos auf die Olympischen Sommerspiele zu. Das Land sucht einen Ausweg aus einer der tiefsten Krisen seiner Geschichte. Sie ist politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und auch ethisch-moralisch: Umbruchszeit.

Bis zu drei Millionen Menschen protestierten am 13. März für die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff. Zusammengenommen war es die grösste Demonstration in der Geschichte des Landes. Die grosse Mehrzahl der DemonstrantInnen war weiss, obwohl in Brasilien die Bevölkerungsmehrheit schwarz ist. Ebenso überdurchschnittlich waren wohlhabende und ältere Menschen vertreten. Damit unterschied sich der Protest klar von den jungen, studentischen Demonstrationen für mehr Bildung, Gesundheit und öffentlichen Transport aus dem Jahr 2013. Damals wurden die Proteste von der Militärpolizei niedergeknüppelt. «Gegen die Entmilitarisierung der Militärpolizei!» ist nun auf Transparenten zu lesen.

Rechtsruck von oben

Vielleicht kann man es so sagen: Die Proteste 2013 waren vom Wunsch nach Fortschritt erfüllt. 2016 sind sie reaktionär. Man weiss, wogegen man ist, aber nicht, wofür.

In Gesprächen sagen die DemonstrantInnen in ihren gelben Hemden immer wieder, Rousseff solle sich mit ihrer korrupten Arbeiterpartei zum Teufel scheren. «Sie hätten Dilma töten sollen!» stand auf dem Schild einer älteren Dame in Rio. Rousseff sass als junge Frau in den Folterkellern der Militärdiktatur.

Ein Land verzweifelt an sich selbst. Ein Land radikalisiert sich. Wie in Europa und den USA polarisiert sich auch in Brasilien die Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen zwischen Links und Rechts, zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarz und Weiss – sie werden vulgärer, bedrohlicher. Doch der Rechtsruck, er kommt nicht von unten, sondern von oben. Die brasilianischen Eliten haben es nie verwunden, dass mit Lula da Silva 2002 ein ehemaliger Metallarbeiter Staatschef wurde, der fehlerhaft Portugiesisch sprach und billigen Cachaça trank.

Der hässliche Begriff «golpe» macht jetzt die Runde – Putsch. Von den einen zur Absetzung der «kommunistischen» Regierung gefordert, von anderen als Warnung vor den konservativen Medienhäusern verstanden, die mit tendenziöser Berichterstattung die Stimmung gegen die regierende Arbeiterpartei (PT) anheizen. Das Militär hält bisher still, und es ist unwahrscheinlich, dass es sich regen wird. Aber dass BürgerInnen dreissig Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie für die Militärpolizei auf die Strasse gehen, sagt einiges über den Zustand des Landes aus.

Selbst Dilma Rousseff spricht nun von «golpe». Sie wehrt sich gegen die Veröffentlichung von Telefongesprächen durch den ehrgeizigen Ermittlungsrichter Sérgio Moro. Ein abgehörtes Telefonat zwischen Rousseff und Lula, zur besten Sendezeit im Fernsehen ausgestrahlt, löste am 16. März tumultartige Proteste von RegierungsgegnerInnen aus. In der Hauptstadt Brasília versuchten sie, den Präsidentensitz zu stürmen. Zwei Tage später dann die Antwort: Hunderttausende, die meisten in Rot gekleidet, viele KünstlerInnen und Intellektuelle, protestierten gegen den «Putsch» der Justiz in Komplizenschaft mit den Massenmedien. Seitdem wird in Brasilien fast täglich demonstriert, kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den fanatischen PT-GegnerInnen und VerteidigerInnen der Demokratie.

Das sind nur die aktuellen Ereignisse. Sie entfalten sich vor einem düsteren Horizont. Da ist der Einbruch der Wirtschaft: vier Prozent weniger Wachstum, zweistellige Inflation, 1,5 Millionen neue Arbeitslose allein im Jahr 2015. Als Folge steigt die Kriminalität. In Rio haben die Strassenüberfälle sprunghaft zugenommen. Viele geben ihre auf Pump gekauften Autos zurück, sind jetzt statt Ölarbeiter oder Fliessbandarbeiterinnen wieder StrassenverkäuferInnen.

Da ist eine zerfallende Regierung, deren Krise auf etwas Tieferes hindeutet: auf ein politisches System, das nicht funktioniert. Firmenspenden an PolitikerInnen, 28 Parteien im Kongress, 31 (!) Ministerien, Abgeordnete, die nur persönliche Interessen verfolgen.

Mit beiden Krisen eng verwoben: der Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras, in den die grössten brasilianischen Baukonzerne sowie weite Teile der politischen Klasse verwickelt sind.

Zu all dem gesellt sich der immer noch mysteriöse Zika-Virus, dessentwegen die Behörden den Gesundheitsnotstand ausgerufen haben, weil er im Verdacht steht, die Gehirne von Embryos zu schädigen. Dennoch verbreitet er sich, von Mücken übertragen, rasant weiter. «Ein Moskito ist nicht stärker als ein ganzes Land», so die Parole im Kampf gegen Zika. Das Gegenteil erweist sich als wahr.

Es ist so, als ob biblische Plagen Brasilien heimsuchten. In einer Zeitung war zu lesen, dass es zwar stimme, Gott sei nach wie vor Brasilianer (so ein beliebtes Bonmot). Allerdings befinde er sich gerade in einer alttestamentarischen Phase. So viel Humor haben nicht mehr viele. Die Aufregung um Zika mag gross gewesen sein. Aber man spricht schon seit Wochen nicht mehr darüber. Die Gesundheitskrise ist allenfalls als Metapher für den Zustand des Landes präsent.

Ebenso wenig wie über Zika spricht man über die Olympischen Spiele. In einem halben Jahr will Rio de Janeiro die Welt zu den Sommerspielen empfangen. Aber vielen BrasilianerInnen sind die Spiele gleichgültig. Wie sollte es auch anders sein bei dem Drama, das ihnen auf politischer Bühne geboten wird?

«Brasilien hebt ab»

Im vorerst letzten Akt soll der angegraute Expräsident Lula in die Regierung seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff eintreten. Tatsächlich will man ihn durch die Rochade ausser Schussweite des aggressiven Untersuchungsrichters Moro bringen. Dieser erwog, Lula in Untersuchungshaft zu stecken, weil er Gefälligkeiten zweier Baukonzerne in Anspruch genommen haben soll – beides Auftragnehmer der öffentlichen Hand. Als Minister aber genösse Lula Immunität.

Lula war einmal einer der beliebtesten Staatschefs der Welt. Als er Brasilien zwischen 2002 und 2010 regierte, entkamen 36 Millionen BrasilianerInnen der extremen Armut. 40 Millionen stiegen laut offizieller Statistik in die Mittelschicht auf. Es entstanden 19 Millionen versicherungspflichtige Jobs. Brasilien wurde zum zweitgrössten Nahrungsmittelexporteur der Welt. Es lieferte das Eisenerz, aus dem die ChinesInnen den Stahl für ihre Millionenstädte gossen. Und es wollte mit der Ausbeutung der riesigen Ölfelder in den Tiefen des Atlantiks beginnen. Die Wirtschaft wuchs pro Jahr um durchschnittlich vier Prozent, der Mindestlohn verdreifachte sich.

Das «Land der Zukunft» schien endlich seine Rolle gefunden zu haben. Multiethnisch, tolerant, demokratisch. Mit einem unerschöpflichen Potenzial an Rohstoffen und Arbeitskräften. «Brasilien hebt ab», titelte der britische «Economist» im Jahr 2010.

Straferleichterung gegen Aussage

Sérgio Moro ist vierzig Jahre alt und hat einen Teil seiner Ausbildung in Harvard absolviert. Seit zwei Jahren leitet er die Aufklärung der Korruption rund um Brasiliens grösstes Unternehmen Petrobras. «Lava Jato» heisst die Operation – Autowaschanlage. Worum es geht: Firmen, die Aufträge von Petrobras erhielten, mussten eine «Prämie» an PolitikerInnen zahlen. Das System verselbstständigte sich, zwei Milliarden US-Dollar sollen geflossen sein.

2014 kam der Raubzug ans Licht, als ein ehemaliger Petrobras-Manager, der wegen Bestechung festgenommen worden war, einem Deal mit der Staatsanwaltschaft zustimmte: Straferleichterung gegen Aussage. Und er sagte aus, begann Namen zu nennen, es wurden immer mehr. Die Fälle landeten bei Untersuchungsrichter Moro und seinem Team. Die Medien nannten sie «Reiter der Apokalypse».

Nun lehren sie die politische und wirtschaftliche Klasse das Fürchten. Diese hat sich in einem System aus Korruption und Immunität eingerichtet. Es sind Leute, die sich noch als erstaunte Opfer aufführen, wenn auf ihren Anwesen Ferraris und Lamborghinis beschlagnahmt werden. Die Liste der PolitikerInnen, gegen die ermittelt wird, ist mit der Zeit immer länger geworden. Dank einer umfassenden Kronzeugenregelung. Zuletzt sagte ein Senator gegen 74 Personen aus, darunter die Vorsitzenden von Senat und Parlament. Auch der Name von Oppositionsführer Aécio Neves tauchte auf.

Moro muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, am liebsten gegen Angehörige der Arbeiterpartei zu ermitteln. Immer wieder versucht er etwa, Präsidentin Rousseff in den Skandal hineinzuziehen – bisher ohne Erfolg. Von ihren GegnerInnen wird er für die Versuche gefeiert: «#eusoumoro» (#ichbinmoro).

Die grösste Errungenschaft

Nun hat das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff eingeleitet – wegen Unregelmässigkeiten bei der Finanzierung ihrer Wahlkampagne 2014. In der 65-köpfigen Vorbereitungskommission sitzen acht Politiker, gegen die selbst ermittelt wird. Sollte das Impeachment erfolgreich sein, würde Vizepräsident Michel Temer von der wendigen Partei der Demokratischen Bewegung ins höchste Staatsamt aufsteigen. Auch er wird beschuldigt, in Korruptionsskandale verwickelt zu sein.

Das vielleicht Traurigste an der Situation: Es gibt keine Alternativen. Da ist niemand, der einen Weg in die Zukunft zeigt. Niemand, der Hoffnung weckt. Und doch, es gibt auch etwas Positives. Es wird im brasilianischen Schlamassel oft übersehen. Zum ersten Mal wird die Korruption in Brasilien konsequent verfolgt. Zum ersten Mal diskutieren die BrasilianerInnen über diese Seuche. Vielleicht ist das die grösste Errungenschaft der Amtszeit von Dilma Rousseff. Und dafür müsste man ihr eigentlich dankbar sein.