Von oben herab: Erpressungsreform
Stefan Gärtner über alte und neue Steuerprivilegien
Kaum war Guido Westerwelle verstorben, war mein alter Freund N. schon wieder zu Scherzen aufgelegt: «Na», simste er mir, «da bleiben wir auf unseren restlichen Guido-Büchern wohl sitzen!» Das war lustig, denn das von N. und mir 2010 in drei Wochen heruntergeklopfte Werk «Guido ausser Rand und Band! Die offizielle Biographie», eine Sammlung von Bildwitzen, Satiren und Betrachtungen mit tieferer Bedeutung, hatte schon im Erscheinungsjahr wie Blei in den Regalen gelegen. Die Leute waren den Schreihals mit dem Liebesdefizit damals leid.
Gleichwohl nehme ich das Büchlein immer wieder gern zur Hand, und zwar meist wegen Seite 64, allwo der Liberalinski vom Dienst ein paar Denkblasen mit Zahlen des Statistischen Bundesamtes füllen durfte: «1980 haben die Ertragssteuern auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen noch 94 Prozent des Lohnsteueraufkommens ausgemacht, 2003 nur noch 54 Prozent. 1983 hatten die Unternehmenssteuern einen Anteil von 14,3 Prozent am Gesamtsteueraufkommen – 2001 gerade noch 1,8 Prozent. Die Steuerlast, über die die Wirtschaft so klagt, ist eigentlich lächerlich niedrig. Es muss doch erlaubt sein, das in aller Deutlichkeit zu sagen! Aber schön blöd wär’ ich!»
Über die Entwicklung in der Schweiz liegen mir keine Zahlen vor, sie darf aber, die Unternehmerfreundlichkeit der Eidgenossenschaft unterstellt, als ähnliche gelten. Dafür sorgt bekanntlich schon der Steuerwettbewerb, und wer vom Kanton Zug nichts wüsste, so viel wüsste er doch: dass es dort eine Lust ist, Unternehmerin zu sein. Wegen der Steuern. Die nämlich, um es höflich zu sagen, etwas niedriger sind als anderswo.
Oder jedenfalls waren sie das, denn wie jeder Wettbewerb ist auch der um Steuern ruinös, und «seit der Finanzkrise hat sich der internationale Druck für die Aufhebung von Steuerschlupflöchern (…) stark verschärft» (blick.ch), wo nicht sogar scharf erhöht; und also muss die Schweiz jetzt Steuerprivilegien (wie das sog. Holdingprivileg) beseitigen. Womit sie, wie die NZZ warnend wusste, in die Zwickmühle gerät: «Weil die bisher privilegierten Firmen oft sehr mobil sind, wären ohne Ersatzmassnahmen erhebliche Abwanderungen zu befürchten. Laut einer Studie der ETH Zürich könnten die Ausfälle für den Fiskus damit 3 bis 4 Milliarden Franken pro Jahr betragen.»
Und da sind wir nun beim (wunderbar helvetisch tönenden) Stichwort: Ersatzmassnahme. So schlau ist die Schweiz längst, dass sie nicht das eine Privileg kippt, ohne neue Privilegien einzuführen, damit die oft sehr mobilen Firmen von ihrer Mobilität keinen Gebrauch machen: «Zur Diskussion», fasste die NZZ zufrieden zusammen, «steht die Möglichkeit neuer Steuerprivilegien in den Kantonen und zum Teil auch beim Bund; zudem denken viele Kantone über die Senkung der allgemeinen Gewinnsteuersätze nach.» Den Kanton Waadt, dessen Stimmvolk der Unternehmenssteuerreform III bereits mit einer Riesenmehrheit zugestimmt hat, kostet der Entschluss, am Wettbewerbsprinzip festzuhalten, geschätzte 280 Millionen Franken, die für Schwimmbäder oder Schulen also künftig nicht mehr zur Verfügung stehen, und nun kann man sagen: Guet, aber ohne die schönen Ersatzmassnahmen haben wir ja bald keine Unternehmen zum Besteuern mehr! Und das stimmt wahrscheinlich; beweist aber wiederum nur, dass die Freiheit, die wir meinen, in erster Linie eine zur Erpressung ist.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.