Medikamente: Die Kunst der diplomatischen Pharmakritik

Nr. 21 –

Trotz finanzieller Schwierigkeiten und Druckversuche: Der Hausarzt Etzel Gysling übt seit 35 Jahren beständig Kritik an der Pharmaindustrie. Gyslings Arbeit ist unter HausärztInnen hoch geschätzt, aber ihre Zukunft ungewiss. Findet er eine Nachfolge?

Irgendwo zwischen Chemie, Medizin und Publizistik: Etzel Gysling, Hausarzt und Herausgeber der Zeitschrift «Pharma-Kritik».

Fast alle Stühle im Kongresssaal Arosa sind bereits besetzt. Etwas verspätet eilen ein paar ZuhörerInnen herein, am Arm gut gefüllte Werbetaschen mit dem Logo eines Pharmaunternehmens. Vorne auf der Bühne beginnt ein älterer Mann mit seinem Vortrag, in Jeans und kariertem Hemd, die Haare sorgfältig gescheitelt, am Hinterkopf ein paar widerspenstige Strähnen. Etzel Gysling, Stammgast am Ärztekongress in Arosa, spricht über die Probleme mit Antibiotika, über ihre Nebenwirkungen und die zunehmende Wirkungslosigkeit vieler Präparate. Wie die meisten im Saal arbeitet er als Allgemeinpraktiker in einer Hausarztpraxis. Warum gerade er auf der Bühne steht: Gysling hat die erste und bisher einzige Zeitschrift in der Deutschschweiz gegründet, die seine BerufskollegInnen mit kritischen und unabhängigen Informationen zu Medikamenten versorgt.

Rückkehr wegen einer fixen Idee

Die Erfolgsgeschichte nahm vor über vierzig Jahren ihren Anfang. Als junger Arzt erhält Gysling eine Stelle in Kanada und wandert mit seiner Frau Verena nach Sherbrooke, in der Nähe des kanadischen Montreal, aus. Nach ein paar Jahren hat sich das Paar eingelebt. Ihre ersten beiden Kinder kommen zur Welt, Gysling unterrichtet und forscht an der Universität, seine Frau Verena studiert in Abendkursen Literatur. Beiden gefällt die Aufbruchstimmung im Kanada der siebziger Jahre. «Wir wären wohl geblieben», sagt Gysling. «Wäre da nicht meine fixe Idee gewesen, eine Zeitschrift für Hausärzte zu gründen.»

Gysling schwebt ein unabhängiges Blatt vor, das neue Medikamente kritisch unter die Lupe nimmt, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen, die Kosten und problematische Anwendungen untersucht. Er will HausärztInnen etwas in die Hand geben, das sie den einseitigen Informationen der PharmavertreterInnen entgegenhalten können. In England, den USA und auch in Deutschland existieren in den siebziger Jahren bereits pharmakritische Zeitschriften, nicht aber in der Deutschschweiz.

Nächtelang überlegen Gysling und seine Frau Verena: Die gut bezahlte, interessante Stelle in Sherbrooke aufgeben für eine ungewisse Zukunft? Die lieb gewonnene franko-kanadische Weite eintauschen gegen die Enge der kleinen Schweiz?

Im Sommer 1977, nach fast acht Jahren in Kanada, entscheiden sich die Gyslings schliesslich für die Rückkehr auf Probe. Die Familie lagert ihre kanadischen Habseligkeiten ein und reist auf einem polnischen Kursschiff zurück nach Europa.

Anfangs habe kaum jemand seine Praxis gefunden, sagt Gysling. Kein Wunder: Das beige mehrstöckige Haus steht zurückversetzt hinter der Bahnhofstrasse im sankt-gallischen Wil. Die Stufen zu Gyslings Sprechzimmer im ersten Stock knarren. «Die Praxis war damals eine Notlösung für mich», sagt er. «Von irgendwas mussten wir ja leben.» Bei den Kollegen in Wil war er mehr als willkommen. So zogen Gyslings ins katholisch-konservative Städtchen, wo es damals noch kein Stadtparlament gab «und die CVP Politik in irgendwelchen Hinterstübchen machte», wie sich Verena Gysling erinnert.

Oberflächlich gehören «Herr und Frau Doktor» bald dazu; Gyslings Praxis läuft gut, Verena Gysling engagiert sich bei der Grünen Partei. Aber in Wil richtig heimisch zu werden, ist für die links-grünen Gyslings nicht einfach. Wie sie es aus Kanada gewohnt waren, hatten sie keine Vorhänge an ihren Fenstern. «Als ich in Wil als Lehrerin zu arbeiten begann», sagt Verena Gysling, «hiess es: ‹Wozu arbeitet denn die Frau Doktor? Geld haben die bestimmt genug. Besser, sie würde endlich Vorhänge aufhängen!›»

Etzel Gysling sucht AssistenzärztInnen für seine Praxis, die bereit sind, auch an der Zeitschrift mitzuarbeiten. Zwei Jahre nach der Rückkehr aus Kanada erscheint die erste Ausgabe der «Pharma-Kritik»: vier nüchtern gestaltete Seiten mit Gyslings erstem Editorial und einem Artikel zum Thema Brustkrebsbehandlung, auf der letzten Seite einige Hinweise für zukünftige AutorInnen: «Besondere Beachtung wird kritischen Vergleichen und unerwünschten Wirkungen von Medikamenten gewidmet.»

Pharmaunternehmen müssen für die Zulassung eines neuen Medikaments lediglich zeigen, dass es überhaupt wirkt. Die Studien dazu müssen sie nicht offenlegen, ebenso wenig die Methode, nach der die Wirkung eines Medikaments untersucht wurde. Ob und wie viel besser es wirkt als ältere Präparate, muss der Hersteller nicht belegen. Solche Informationen ergänzen Gysling und seine MitarbeiterInnen nun Monat für Monat: Sie lesen öffentliche Studien im Detail, hinterfragen das Design und die Interpretation der Resultate. Allzu oft werden die Daten zu einem neuen Präparat genau so erhoben, dass sie immer besser abschneiden als ältere Medikamente.

Gleichzeitig behalten die «Pharma-Kritik»-AutorInnen im Auge, was über bereits zugelassene Medikamente publiziert wird: Sie fassen wissenschaftliche Fachartikel zusammen und ordnen die Resultate zu Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten für den Arbeitsalltag in der Praxis ein – ein Aufwand, der für die meisten HausärztInnen zu gross ist.

In seinen Leitartikeln kommentiert Gysling fortan regelmässig die Schwächen des Schweizer Heilmittelgesetzes, schreibt an gegen die undurchsichtigen Vermarktungsstrategien der Pharmaindustrie und deren Einfluss bei der Medikamentenzulassung.

Klagedrohungen der Pharma

Als Jugendlicher wollte Gysling Chemiker werden, das habe ihn am meisten interessiert. Doch dann trat er in die Fussstapfen seines älteren Bruders und studierte Medizin. Mit seinem Interesse an den Medikamenten als chemischen Stoffen und ihren Wirkungen ist Gysling schliesslich irgendwo zwischen Chemie und Medizin gelandet.

«Ich verfolge mit meiner Zeitschrift eigentlich ein völlig egoistisches Ziel», sagt Gysling. Denn er war immer fasziniert vom Schreiben. Dass daraus auch ein gewisser Nutzen für andere resultierte, hält er für einen Glücksfall.

Zu den AbonnentInnen der «Pharma-Kritik» zählen auch pharmazeutische Unternehmen. Manch einE PharmavertreterIn besitzt ein persönliches Abonnement. Verschiedene HausärztInnen erzählen, wie die VertreterInnen bereits mit Argumenten auf Gyslings kritische Besprechungen zu Praxisbesuchen erscheinen.

Aber auch in den Pharmaunternehmen wird das Blatt aufmerksam verfolgt. «Anfangs gab es regelmässig böse Briefe», erinnert sich Gysling. Mehrmals wurde ihm eine Klage angedroht: «Wir besprachen etwa ein Antidepressivum, dass es Patienten nicht immer nur beruhigt, sondern manchmal auch aufregt. Ausserdem hatte das Medikament zahlreiche Nebenwirkungen. Daraufhin warf uns das Unternehmen vor, ihm sei unseretwegen die Zulassung für die Krankenkassen verwehrt worden – was natürlich nicht stimmte.» Gysling grinst. «Genau wegen solcher Drohungen ist es wichtig, dass wir alles extrem genau absichern und prüfen.» Manch ein Medikament verschwand dadurch wieder vom Markt, so zum Beispiel das Präparat Prepulsid, das zur Regulierung der Magen-Darm-Aktivität verschrieben wurde, als Nebenwirkung aber schwere Herzrhythmusstörungen auslösen konnte.

Mit seiner Gründlichkeit erarbeitete sich Gysling in den vergangenen 35 Jahren das Vertrauen der HausärztInnen, der Schweizer Hausärzteverband lobt Gyslings Arbeit in höchsten Tönen, und JournalistInnen bitten ihn regelmässig um seine Expertise.

Ungewisse Zukunft

So geschätzt Gyslings Publikationen sind, so ungewiss ist deren Zukunft. Schon immer schrieb Gysling für eine überschaubare Leserschaft, und diese verändert sich gerade fundamental. Die 68er-ÄrztInnengeneration geht in Pension und hinterlässt zahlreiche Einzelpraxen, für die sich kaum mehr NachfolgerInnen finden lassen. «Nicht selten übernehmen dann Ärzte aus Deutschland oder anderen EU-Ländern, die eher einen Bezug zu anderen Zeitschriften haben», sagt Gysling. «Auch arbeiten heute viel mehr Hausärzte in Gruppenpraxen, die nur noch ein Exemplar der ‹Pharma-Kritik› für die ganze Praxis abonnieren.»

Die Zahl der Abonnemente spielt eine entscheidende Rolle. Gysling Zeitschriften erscheinen völlig werbefrei – für ihn der einzige Weg, um dem Einfluss der Pharmaindustrie zu entgehen. Derzeit beträgt die Auflage knapp 3000 Exemplare, Tendenz abnehmend. Tatenlos zusehen, wie die Abozahl sinkt, will Gysling aber nicht. «Wir überlegen zum Beispiel, zusätzlich zu den üblichen Beipackzetteln kritische Informationsblätter anzubieten. Oder eine Crowdfundingkampagne zu starten.» Nur eines geht auf keinen Fall: ein Sponsoring aus Kreisen der pharmazeutischen Industrie, sei es noch so grosszügig.

Gesucht: Multitalent

Den Auftritt in Arosa beendet Gysling fast abrupt; die Zeit für den nachfolgenden Vortrag soll nicht zu kurz werden. Den hält seine Kollegin Alexandra Röllin, 45, Hausärztin in Bern und seit knapp zehn Jahren Mitarbeiterin im Infomed-Verlag. Der Wechsel auf der Bühne steht für eine zweite grosse Herausforderung: die Übergabe in jüngere Hände. Röllin wäre eine mögliche Nachfolgerin. Sie versteht viel von Epidemiologie, also der Verbreitung von Krankheiten in der Bevölkerung, und den statistischen Methoden, mit denen diese erfasst wird. Das Fachwissen ist wichtig, um die Medikamentenstudien verstehen und interpretieren zu können. Zudem schreibt Röllin gern – eine Seltenheit unter ÄrztInnen, zumal bei dieser Arbeit keine wissenschaftlichen Lorbeeren locken. «Mir sind diese kritischen Untersuchungen ein grosses Anliegen», sagt Röllin.

Am Tag, an dem Etzel Gysling mit seiner pharmakritischen Arbeit aufhören wird, gibt es eine anspruchsvolle Stelle zu besetzen. Röllin sagt: «Etzel beherrscht die Kunst, seine durchaus scharfe Kritik so diplomatisch und pointiert zu formulieren, dass er niemanden vor den Kopf stösst. Dafür wird er in der Schweiz sehr geschätzt.»

Röllin stellt in Arosa ein paar neu zugelassene Medikamente vor, bespricht deren Wirkungen und Nebenwirkungen, vergleicht die Preise mit älteren Medikamenten. Ihr Fazit: Keines der Medikamente wirkt signifikant besser als seine Vorgänger, alle kosten deutlich mehr und besitzen teils problematische Nebenwirkungen. Röllins Vortrag endet mit einem Witz: «Ein Patient gesteht seinem Arzt, dass er seine Medikamente nicht länger einnehme. ‹Warum denn?›, fragt der Arzt. Darauf der Patient: ‹Mir ist die eigentliche Krankheit lieber als die vielen Nebenwirkungen.›» Gelächter im Publikum.