Von Churchill bis Farage: «Let Europe arise!» – eine historische Spurensuche zum Brexit

Nr. 26 –

Nach 1945 kamen entscheidende Impulse für eine Europäische Union aus Britannien – später war das Verhältnis zur EU unwillig-ambivalent.

  • Anti-Brexit-AktivistInnen am «Big In» am 19. Juni im Londoner Hyde Park. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Junge BritInnen am Fährhafen von Liverpool. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Pro-Brexit-Bus an einer «Vote Leave»-Demonstration am 15. Juni in London. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • An einer Nostalgie-Autoshow in Wadebridge. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Zwei Brexit-Anhängerinnen in Clacton-on-Sea, Essex. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif

Am 19. September 1946 formulierte Winston Churchill in einer flammenden Rede an der Universität Zürich die Vision «einer Art Vereinigter Staaten von Europa» mit Frankreich und Deutschland als führenden Mächten. Zwar gehörte Grossbritannien für ihn nicht zu diesen Vereinigten Staaten – «wir Briten haben unser eigenes Commonwealth» –, es sollte deren Zustandekommen aber ebenso unterstützen wie die USA und Sowjetrussland. Sein Appell kulminierte im Aufruf: «Therefore I say to you: Let Europe arise!»

Churchill dachte Grossbritannien noch in Kategorien der Weltmacht eines Empire. Er sah die britischen Aussenbeziehungen in drei Kreise unterteilt: in das transatlantische Bündnis mit den USA, dem Commonwealth und Europa. Weil Letzteres von untergeordneter Bedeutung war, konnte Churchill geradezu experimentell über eine föderalistische Version des Integrationsprozesses reden, an dessen Ende ein europäischer Bundesstaat mit einer Verfassung und einem Bürgerrecht stehen sollte.

Auf derselben Linie argumentierten auch die im September 1946 in Hertenstein am Vierwaldstättersee versammelten föderalistischen Gruppen, die aus den europäischen Widerstandsbewegungen hervorgegangen waren. Sie sahen im Nationalismus des 19. Jahrhunderts eine nach wie vor friedensgefährdende Destruktivkraft. Der politisch und moralisch bankrotte Nationalstaat sollte als institutioneller Entscheidungsrahmen für Demokratie erneuert werden. Das setzte einen markanten Ausbau von Sozialstaat und Wirtschaftspolitik voraus sowie die Einbindung in ein starkes suprastaatliches Institutionengefüge.

Ein solches Europa schwebte der «Union europäischer Föderalisten» vor, die auf dem «Hertensteiner Programm» aufbaute. Durch einen «demokratischen Aufbau von unten nach oben» sollte eine bundesstaatliche Union geschaffen werden, die «die Rechte und Pflichten ihrer Bürger in der Erklärung der Europäischen Bürgerrechte fest(setzt)». Diese Union «richtet sich gegen niemand und verzichtet auf jede Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug irgendeiner fremden Macht zu sein».

EU massgeblich mitgestaltet

Den «Föderalisten» erwuchs alsbald Opposition vonseiten der «Unionisten», die eine eher lockere intergouvernementale Zusammenarbeit der Länder anstrebten. Seit 1948 von Churchill unterstützt, lieferten sie die Blaupause für das europäische Einigungsprojekt als Staatsvertragskonstruktion. Über das bipolare Parteiensystem hinweg genoss dieser Integrationsprozess britische Sympathien. Doch eine institutionelle Beteiligung kam nicht infrage. Der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gaben britische Politiker zunächst wenig Kredit, sie wurden bald eines Besseren belehrt.

In den sechziger Jahren, als die britische Regierung den «wind of change» im Rest des sich auflösenden Empire zur Kenntnis nehmen musste, setzte eine Hinwendung zu Europa ein. Zweimal stellten die BritInnen ein Beitrittsgesuch an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), scheiterten aber am Veto des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, der sich vor einem sperrigen und gewichtigen Neumitglied fürchtete. Mit dem dritten Anlauf von 1969 rannten die BritInnen dann aber offene Türen ein; Anfang 1973 wurden sie in die Europäische Gemeinschaft (EG), wie die EWG mittlerweile hiess, aufgenommen.

Nach einem ersten Referendum, das 1975 deutlich zugunsten des Verbleibs in der EG ausging, begannen sich britische und europäische Politikinteressen in zentralen Bereichen zu überschneiden. Die EG beziehungsweise (seit dem Vertrag von Maastricht von 1992) die Europäische Union (EU) wurden durch den Einfluss des Inselstaats massgeblich geprägt. Dies insbesondere bei der Ausgestaltung des Binnenmarkts, der auch die Handschrift Margaret Thatchers aufweist, bei der Stärkung einer gemeinsamen europäischen Aussenpolitik und bei der Erweiterung des Mitgliederkreises.

Trotz dieser funktionierenden Kooperation gefiel sich Grossbritannien immer in einer Aussenseiterrolle und pflegte ein unwillig-ambivalentes Verhältnis zur EU. Es lehnte den Euro ab und hielt am Pfund fest. In der Sozialpolitik leistete es Widerstand gegen europäische Modelle. Und beim Grenz- und Migrationsmanagement «kooperiert» Grossbritannien lediglich, ist also nicht Mitglied des Schengen-Dublin-Abkommens.

Eine weitere wichtige Differenz ergibt sich aus der politischen Kultur der Massenmedien. Seit den achtziger Jahren klafft eine paradoxe Lücke zwischen einer grundsätzlich «positiven Teilnahme» und einem medial kultivierten Europaskeptizismus. Die EU diente als Blitzableiter für Probleme der britischen Innenpolitik sowie des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Strukturwandels, der die Kluft zwischen GewinnerInnen und VerliererInnen vergrösserte. Die schon früh erkennbaren patriotischen Profilneurosen der Regierungspolitik sind im 21. Jahrhundert umgeschlagen in einen fremdenfeindlichen Nationalismus, der sich nicht nur in der rechtspopulistischen UK Independence Party (Ukip), sondern auch bei einem immer grösseren Teil der Konservativen zeigt. Dazu kam eine Kritik von links, die gegen «Brüssel» als «Metropole des Kapitals» gerichtet war.

Falsche Identitätspolitik

In den Anti-EU-Feldzügen der letzten Jahre ging es nicht mehr wie noch bei Churchill um die Vorstellung, Grossbritannien könne eine Weltmachtgeltung verstetigen. Die Debatte kreist vielmehr um Identitätspolitik. Diese provoziert ideologische Aufwallungen, die von grotesker politisch-wirtschaftlicher Blindheit sind. Im knapp siegreichen Austrittsvotum bündeln sich unterschiedlichste Interessen und Imaginationen. Nationalnostalgie und Sündenbockpolitik vermischen sich mit Besitzstandswahrungs- und Überfremdungsängsten. Die Brexit-Kampagne basierte vorwiegend auf falschen Versprechungen. Eine operationelle Zielsetzung wurde nicht sichtbar.

Abstimmungsanalysen widerlegen auch die populäre These, eine reformunfähige EU habe ein an Freihandel und europäischen Regeln durchaus interessiertes Land in eine kollektive Verzweiflungstat gestürzt. Nationen sind keine homogenen Entitäten. In Grossbritannien lässt sich eine paradoxe zeitliche Gegenläufigkeit beobachten. Vor allem ältere Bevölkerungsteile, die während der 43 Jahre EU-Mitgliedschaft keine schlechten Erfahrungen gemacht hatten, liessen sich von der Exit-Trommel einlullen. Sie merken nun vielleicht, dass die «Unabhängigkeit», für die sie gestimmt haben, ihren Arbeitsplatz zerstört.

Die Generation, die das (Berufs-)Leben vor sich hat, stimmte grossmehrheitlich für die Fortsetzung der britischen Mitgliedschaft in der EU. Der Brexit steht somit für eine angegraute, ressentimentgeladene Souveränitätsfiktion – diese setzte sich durch gegen den gelassenen Pragmatismus jener, die die Zukunft noch vor sich haben und die nicht vergessen haben, dass die EU bei allen Funktionsmängeln und Demokratiedefiziten ein Freiheits- und Friedensprojekt geblieben ist (was man aus historischer Perspektive von Nationalstaaten nicht sagen kann).

Es gibt heute gute Gründe dafür, wieder auf die Vorschläge der Föderalisten zurückzukommen, um die EU auf produktive Weise weiterzuentwickeln. Gut möglich, dass der europäische Integrationsprozess einen Schub in eine neue Richtung erhält, während das Vereinigte Königreich auseinanderfällt.

Der Historiker Jakob Tanner (65) war bis zu seiner letztjährigen Emeritierung Professor an der Universität Zürich.