Auf allen Kanälen : Europa kann doch ganz lustig sein
Eine neue englische Wochenzeitung will den Katzenjammer nach der Brexit-Abstimmung lindern helfen. Warum auch nicht?

Nur zwölf Tage dauerte es von der ursprünglichen Idee bis zur ersten Ausgabe. Nach dem Brexit-Entscheid zum EU-Austritt Britanniens vom Donnerstag, dem 23. Juni, herrschte ein paar Tage lang Schockstarre. Dann, am folgenden Sonntag, hatte Matt Kelly eine Idee, am Dienstag hatte er die Geschäftsleitung des Medienunternehmens, bei dem er arbeitete, überzeugt, und am 8. Juli erschien die erste Nummer der Wochenzeitung «The New European». «For the 48 %» heisst sie im Untertitel, sie soll also die Fackel für jene knappe Minderheit weitertragen, die für einen Verbleib in der EU stimmte.
Seither sind sechs Nummern erschienen, jeweils 48 Seiten für 48 europäische Länder – Europa beschränkt sich löblicherweise nicht auf die EU, sondern reicht bis und mit Russland. Chefredaktor Matt Kelly (47) hat die Gründung geradezu existenziell begründet: Die Brexit-GegnerInnen seien am Boden zerstört gewesen und hätten Aufmunterung und Halt gebraucht.
Freches Patchwork
Herausgegeben wird das Blatt vom Verlag Archant in Norwich. Der ist mittelgross, betreibt vier lokale Tageszeitungen in Ostengland sowie gut sechzig lokale Wochenzeitungen und Gratisanzeiger und expandierte in den letzten Jahren nach London. Zudem im Angebot: siebzig Zeitschriften im Hobbynischenmarkt, schön illustriert, für jedes County eine, für Luftpistolenfans, Kanalbootsbesitzer, Sporttaucherinnen, aber auch «Your Chickens», über alles, was Sie schon immer über die Hühnerzucht zu Hause wissen wollten. Dazu betreibt er viele ähnliche Websites: ein offenbar erfolgreiches Patchwork in einer unwegsamen Medienlandschaft.
Patchworkmässig wirkt auch die neue Zeitung. Geboten wird eine Mischung aus Politik und Infotainment. Kein Wunder, Chefredaktor Kelly kommt vom Boulevardjournalismus her. Die Redaktion besteht aus gerade einmal sieben Leuten, die Artikel schreiben freie MitarbeiterInnen und Prominente, dazu kommen Kurzfutter, Infografiken, schrille Illustrationen.
Politisch ist ein breites Spektrum vertreten. Der Philosoph Anthony Grayling ruft mit demokratietheoretischen Argumenten dazu auf, das Referendumsresultat nicht umzusetzen. Der Unternehmer Richard Branson verkündet einen sozialdemokratisch-turbokapitalistischen Wirtschaftsplan. Peter Mandelson, diskreditierter Vordenker des Blairismus, vergiesst Krokodilstränen über den Rechtspopulismus.
Aber man findet auch recht freche Ideen. So gibt es jeweils ein mehrseitiges Dossier «Expertise», in dem Fachleute zu Wort kommen, als Reaktion auf den konservativen Brexit-Vertreter Michael Gove, der gesagt hatte, die Leute hätten die Schnauze voll von ExpertInnen. Auch ausländische AutorInnen sind gut vertreten.
Vorläufig rentabel
Erstaunlich unterhaltsam umrahmt wird das von viel Trashjournalismus. Eine Grafik erklärt, wie man in den europäischen Sprachen Ja sagt. Die Agenda enthält vage politische Notizen aus vielen Ländern. Eine Doppelseite präsentiert «Your Smartphone Portrait of a Great European City». Zum Schluss gibt es «48 Ties that Bind» – Hinweise, wie Britannien mit 48 europäischen Ländern verbunden ist. Das vermittelt das Gefühl: Schaut mal, wie interessant und lustig und skurril Europa sein kann.
Die Zeitung wurde als «pop-up newspaper» lanciert und soll so lange gedruckt werden, wie sie ankommt und rentiert. Anfänglich waren nur vier Ausgaben geplant. Deren Auflage von 40 000 wurde praktisch ausverkauft, und ganzseitige Inserate für Reisen nach Europa bringen zusätzliche Einnahmen. So darf der «neue Europäer» vorläufig weiterleben.
Dabei ist bewusst aufs gedruckte Papier gesetzt worden, auch als Werbeeffekt. Chefredaktor Matt Kelly hat gegenüber dem «Deutschlandfunk» gesagt, über eine neue Website hätte niemand berichtet. Kelly ist realistisch genug, sodass er keine umwälzende Wirkung erwartet. «The New European» sucht sein Publikum in Pro-EU-Regionen wie London, Liverpool und Manchester und ist damit auch als PR-Vehikel für den Verlag gedacht.
Europa braucht eine europäische Öffentlichkeit. «The New European» trägt politisch zwar nicht viel dazu bei. Schillernd und unterhaltsam ist das Blatt aber alleweil.