Europapolitik: Bringen frische Listen den europäischen Frühling?

Nr. 25 –

Mit seiner Bewegung DiEM25 will Yanis Varoufakis bei der nächsten Europawahl auf einer transnationalen Liste antreten. Derzeit sucht er auf dem ganzen Kontinent nach Verbündeten. Doch was steckt hinter der Idee? Und wie progressiv ist das?

Geht es nach Yanis Varoufakis, steht der europäische Frühling kurz bevor. Für seine Bescheidenheit war Griechenlands ehemaliger Finanzminister zwar noch nie bekannt. Was ihm jetzt vorschwebt, käme jedoch einer Revolution gleich: Auch wenn es nicht gleich der endgültige Abschied vom Nationalstaat wäre, so doch zumindest eine Umwälzung des Parteiwesens der EU. Der Weg dorthin soll über das Parlament erfolgen.

Im Februar 2016 hatte Varoufakis an der Berliner Volksbühne mit viel Pomp seine paneuropäische Initiative Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) gegründet. Nun will der 57-Jährige mit seiner Bewegung bei der Europawahl im kommenden Mai antreten: auf einer transnationalen Liste. Zurzeit sucht er auf dem gesamten Kontinent nach MitstreiterInnen und Verbündeten für sein Projekt. Der waghalsige – und wohl nicht zufällig gewählte – Name: European Spring. Europäischer Frühling eben.

Ein paradoxes System

Seit Jahren schon sorgt das Wahlrecht in der EU für hitzige Debatten. Denn das aktuelle System ist paradox: In den 28 Mitgliedsländern finden jeweils nationale Wahlen statt – an je unterschiedlichen Terminen, mit unterschiedlichen Wahlsystemen und nationalen KandidatInnen, die je das Programm ihrer nationalen Parteien verfolgen. Im Anschluss werden die VertreterInnen nach Brüssel und Strassburg geschickt, wo sie dann plötzlich transnational agieren sollen. «Dieses Verfahren widerspricht dem Geist der europäischen Integration», sagt der Freiburger Europawissenschaftler Gilbert Casasus. Die nationale Agenda der Parteien, ihr innenpolitisches Kalkül, das im EU-Parlament eigentlich zweitrangig sein sollte, führe zu einer Blockade.

Das bedeutet auch: Im Wahlkampf werden praktisch keine Debatten über europäische Belange geführt, stattdessen orientieren sich die Diskussionen vor allem an nationalen Disputen. Eine europäische Öffentlichkeit kann auf diese Art gar nicht entstehen. Vielleicht lässt sich dadurch auch die immer weiter sinkende Wahlbeteiligung erklären: In Deutschland etwa gingen Ende der siebziger Jahre noch fast 66 Prozent der BürgerInnen an die Urne, vor vier Jahren waren es nur noch rund 48 Prozent.

Der Wunsch, die Blockade in der Parteipolitik zu lösen, besteht schon lange. Ein Schritt in diese Richtung war die Einführung der SpitzenkandidatInnen bei der letzten Europawahl. Damals unterlag der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz dem bürgerlichen Jean-Claude Juncker aus Luxemburg im Kampf um das Amt des Kommissionspräsidenten. Wesentlich weiter ginge jedoch die Einführung transnationaler Wahllisten, wie sie auch Varoufakis vorschwebt. Ein Vorschlag übrigens, der bereits seit Jahrzehnten durchs EU-Parlament geistert. Passiert ist seither wenig.

Das Prinzip ist simpel: Die VertreterInnen fürs EU-Parlament sollen über einheitliche Listen bestimmt werden. Eine deutsche Wählerin müsste sich dann nicht mehr allein für deutsche KandidatInnen entscheiden, sondern könnte etwa auch einen spanischen Kandidaten wählen. Und ein sozialdemokratischer Spitzenkandidat könnte entsprechend in allen Ländern gewählt werden. Die BefürworterInnen erhoffen sich, dass ein solches System das EU-Parlament wenn nicht bedeutungsvoller, dann zumindest europäischer machen würde. Und zum Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit beiträgt.

Gescheiterter Realitätstest

Einem ersten Realitätstest unterzogen wurde das Konzept der transnationalen Listen im Februar. Weil Britannien die EU verlässt, werden eigentlich bei der nächsten Wahl 73 Sitze frei. In seiner berühmten Rede vor der Sorbonne-Universität hatte sich schon Emmanuel Macron inbrünstig dafür ausgesprochen, zumindest einen Teil dieser Sitze mit europaweit gewählten Abgeordneten zu besetzen. Dieses Verfahren sei die wahrhaftig europäische Antwort auf den Brexit, so der französische Präsident. Er selbst ist gerade dabei, mit Abgeordneten aus verschiedenen Ländern eine Fraktion zu gründen, angeführt von seiner eigenen Partei, La République en Marche. Für den Vorschlag, die Brexit-Sitze europäisch zu besetzen, trat auch der parlamentarische Verfassungsausschuss ein – und fiel im Plenum knallhart durch: Der Vorschlag wurde mit 368 zu 274 Stimmen abgelehnt. Die 73 Sitze werden nun einfach gestrichen.

Während Linke, Grüne und SozialdemokratInnen mehrheitlich dafür stimmten, versenkte massgeblich die rechtsbürgerliche Europäische Volkspartei (EVP), der unter anderem die CDU und Viktor Orbans Fidesz angehören, das Vorhaben. Aus Angst vor dem eigenen Machtverlust, wie Gilbert Casasus glaubt. «Der grassierende Nationalismus ist die grösste Hürde für die Europäisierung des Wahlsystems», so der Politologe.

Gerade Deutschlands Rolle kritisiert der Europawissenschaftler scharf: «Nach wie vor wird versucht, auf europäischer Ebene deutsche Interessen zu verfolgen. Dabei kann die nächste Wahl niederschmetternd ausfallen, weil die Mehrheit dann möglicherweise antieuropäisch wäre – wenn man nicht rechtzeitig aktiv wird.» Und auch die Linke nimmt Casasus in die Pflicht: «Wegen der berechtigten Kritik an der neoliberalen Ausrichtung haben sich viel zu viele leider von der Grundidee der EU verabschiedet», sagt er. Damit schiesse die Linke jedoch ein Eigentor.

Um die drohende antieuropäische Mehrheit zu verhindern, ist auch Varoufakis aktiv geworden. Im März lud er medienwirksam zur grossen Konferenz nach Neapel – mit vielen Gästen aus der europäischen Linken: der kleinen polnischen Linkspartei Razem und der grünen Alternativet aus Dänemark, dem links-grünen Bündnis Livre aus Portugal und der Génération.s des ehemaligen sozialistischen französischen Präsidentschaftskandidaten Benoît Hamon oder der von Varoufakis in Griechenland gegründeten Partei MeRA25. In jedem teilnehmenden Land soll es einen eigenen «Wahlflügel» geben. Je nach System des Landes braucht es dafür einen Ableger – oder die Kooperation mit einer bestehenden Partei. Inzwischen sollen sich bereits 100 000 RevolutionärInnen in spe dem Bündnis angeschlossen haben: «Eine glaubwürdige, radikale Alternative im Europäischen Parlament», wie es auf der Website der Bewegung heisst.

Ein neuer Deal für die Linke

DiEM25 hat auch ein Manifest vorgelegt. Wenig bescheiden beschwört die Bewegung einen «New Deal» für Europa. Das Papier selbst bietet indes wenig Konkretes: Es verspricht eine gemeinsame Kandidatur für das Amt des Kommissionspräsidenten und eine gemeinsame Fraktion, eine europäische Verfassung und die Stärkung der ArbeiterInnenrechte, eine Reform des EU-Budgets und den Kampf gegen Steueroasen, ein europäisches Asylsystem und das Ende der «Festung Europa», schliesslich einen Innovationsfonds und einen Plan fürs Klima. Auch wenn es mit der Umsetzung des «New Deal» in der gegenwärtigen politischen Konstellation schwierig werden dürfte und das Manifest vor allem in der Umsetzung der Versprechen schwammig bleibt – die Stossrichtung ist erfreulich: Europäische Probleme sollen auf europäischer Ebene gelöst werden.

Für ihr Ansinnen der transnationalen Listen erhalten die ProeuropäerInnen derweil Unterstützung von ungewohnter Seite. Kürzlich sprach sich sogar die deutsche Kanzlerin, deren CDU den Versuch im Februar noch unterbunden hat, dafür aus. «Die Aufstellung von europäischen Spitzenkandidaten hat sich etabliert. Doch auf Dauer wird das nur funktionieren, wenn der Kandidat auf einer transnationalen Liste steht, also wirklich in allen Ländern gewählt werden kann», so Angela Merkel. Ihr Statement dürfte nun zusätzliche Bewegung in die Diskussion bringen.