Frankreich: Die verlogene Burkinidebatte

Nr. 35 –

In den letzten Wochen haben in Frankreich dreissig Bürgermeister den Musliminnen verboten, am Strand einen Burkini zu tragen. Sie beriefen sich dabei unter anderem auf den Laizismus – genauso wie der Konservative Nicolas Sarkozy und der sozialistische Premierminister Manuel Valls, die ihnen zur Tat gratulierten. In Wahrheit rennen sie dem rechtsnationalen Front National (FN) hinterher. Diese Politik, im Namen der Aufklärung auf Minderheiten einzuhauen, fasste der französische Komiker Coluche (1944–1986) einst in einem Witz zusammen: «Mit dem Rassismus ist es wie mit den Arabern, er sollte nicht existieren!»

Im Frühling sind Präsidentschaftswahlen, und FN-Chefin Marine Le Pen hat das grosse Thema bereits gesetzt: die nationale Identität – und der Islam, der diese bedrohe.

Frankreichs Identitätsdebatte geht auf die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre zurück. 1981 schaffte es der Sozialist François Mitterrand, die Bevölkerung mit einem linken Wirtschaftsprogramm zu gewinnen und Staatspräsident zu werden. Als die InvestorInnen darauf ihr Kapital aus dem Land zogen, schwenkte er 1983 auf einen liberalen Kurs ein. Frankreichs ArbeiterInnen wurden politisch heimatlos, der FN sprang in die Lücke. 1983 erreichte er bei den Gemeindewahlen elf Prozent. An die Stelle des linken Kampfs gegen das Kapital setzte der FN den rassistischen Kampf gegen «Araber», allmählich gegen «Muslime».

Ein Teil der Linken sprang mit auf: Als 1983 nordafrikanische Arbeiter der Autoindustrie streikten, denunzierten Mitterrands Minister diese als islamische «Integristen». Die neue weltpolitische Kulisse war günstig: Im Iran hatten kurz zuvor die Mullahs die Macht erobert.

Seither schossen sich Frankreichs Konservative und Teile der Linken immer mehr auf den Islam ein: Als sich 1989 drei Mädchen in einer Schule weigerten, ihr Kopftuch abzulegen, forderten «republikanische Philosophen» in einem Manifest durchzugreifen. Unter dem Einfluss des algerischen Bürgerkriegs und der Anschläge vom 11. September 2001 in New York verbannte 2004 die Regierung unter Jacques Chirac das Kopftuch aus den Schulen, 2010 wurde unter Sarkozy der Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit verboten.

Damit sie ihren Kulturkampf unter dem Banner des Laizismus führen können, haben die Konservativen und Teile der Linken den Laizismus uminterpretiert. Das liberale Laizismusgesetz von 1905 schränkt die Religionsfreiheit nur dort ein, wo sie die Freiheit anderer gefährdet. Der neue autoritäre Laizismus will jedoch den MuslimInnen ihre Religion austreiben. Damit wird er zum Spiegelbild des Islamismus.

Nach der Finanzkrise war es dem Sozialisten François Hollande 2012 – wie einst Mitterrand – erneut gelungen, mit linken Wirtschaftsversprechen Präsident zu werden. Kurz darauf schwenkte aber auch er um und peitschte schliesslich eine Deregulierung des Arbeitsmarkts durch. Angesichts der Wirtschaftskrise und der jüngsten Attentate versucht er nun, durch das Kopieren des FN die Bevölkerung zu gewinnen. Das reicht von der Verhängung des Ausnahmezustands über den Versuch, DschihadistInnen auszubürgern, bis zu Valls’ Befürwortung der Burkiniverbote.

Doch der FN ist gefährlicher geworden. Marine Le Pen, die ihren Vater 2011 an der Spitze des FN abgelöst hatte, ersetzte das ultraliberale Wirtschaftsprogramm durch ein protektionistisches. Angesichts der SozialistInnen, deren wirtschaftliche Ideen sich von jenen der Konservativen nicht mehr unterscheiden, ist der FN vor allem darum im Norden des Landes für viele ArbeiterInnen zur neuen Heimat geworden. Zudem hat Le Pen dem Rassismus des FN ein republikanisches Mäntelchen umgelegt, auch sie beschimpft den Burkini im Namen des Laizismus. Damit punktet sie auch unter Konservativen und Linken, die gegenüber dem alten Le Pen Berührungsängste hatten.

Nicht alle eifern jedoch dem FN hinterher. Hollandes parteiinterner Rivale um die Präsidentschaft, Benoît Hamon, hat die Arbeitsmarktreform bekämpft und Hollande aufgerufen, Valls’ «Irrungen» in der Burkinidebatte ein Ende zu setzen.