Studentische Eigeninitiativen: «Alles war gut, was autonom war»
Freie Tutorate von Studierenden für Studierende waren an der Universität Zürich fast zwei Jahrzehnte lang eine kritische Ergänzung zum offiziellen Lehrplan. Die Studentin Nina Kunz fragt, weshalb das heute anders ist.
Engagierte Studierende waren schon immer in der Minderheit. Das war 1968 so, und das ist auch heute noch so, wo das vegane Essen in der Mensa für mehr Gesprächsstoff sorgt als die Vorlesung. Doch der Mär von den engagierten Studierenden erliegen wir Studierenden selbst immer wieder, wenn wir beispielsweise hören, wie sich unsere VorgängerInnengeneration in den achtziger und neunziger Jahren gegenseitig unterrichtete – freiwillig und ohne den Anreiz von ECTS-Punkten, mit denen wir heute für das Absolvieren von Kursen belohnt werden.
Was war damals geschehen, dass DozentInnen noch heute von dieser Zeit schwärmen? Ein kurzer Blick zurück: Anfang der achtziger Jahre trugen einige ExponentInnen der «Bewegig» sowie Studierende, die während der Jugendunruhen die Idee von Freiräumen aufgeschnappt hatten, die Forderung nach freien Tutoraten an die Universität Zürich. Man wollte Kurse selbst gestalten können – jenseits von Lehrplänen und herkömmlichen Unterrichtsweisen. Federführend dabei waren der Fachverein Geschichte und der spätere Professor Kurt Imhof. Er machte gleich selbst vom neu erkämpften Recht Gebrauch und bot einen Kurs zum Thema «Marx und die Triebkräfte der Geschichte» an. Für das Organisieren solcher Lerngruppen erhielten die Studierenden vom Historischen Seminar 880 Franken. Pro Semester wurden zwei bis drei solcher Projekte bewilligt.
«Wir fanden einfach alles gut, was autonom war», sagt Daniel Kurz, der 1982 mit dem Studium begann und ein Fan Imhofs war. «Die Stimmung in den freien Tutoraten war nicht so steif wie in den herkömmlichen Seminaren, wo man sich oft erst meldete, wenn man etwas Druckreifes bereithatte.» Die Kurse seien stark geprägt gewesen vom Geist der Achtzigerproteste, erzählt er weiter. So hätten die Lerngruppen in der unstrukturierten Welt des Studiums ein Gemeinschaftsgefühl vermittelt und zudem Raum für ausgefallene Ideen geboten – etwa Tutorate zu ambitionierten Themen wie Macht.
Keine Selbstfindungsgrüppchen
Trotz des riesigen Aufwands, den einige Studierende für die Kurse betrieben, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich stets nur rund sechzig Personen pro Jahrgang dafür interessierten. Bemerkenswert ist jedoch, wie viele renommierte WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen aus dem Netzwerk erwachsen sind: etwa Hans-Jürg Fehr, der ehemalige SP-Präsident, Anita Ulrich, die mittlerweile pensionierte Leiterin des Sozialarchivs, oder eben Daniel Kurz, der heute das Architekturmagazin «werk, bauen + wohnen» leitet.
Zusammengeschweisst wurde diese Gruppe eifriger Studierender jedoch nicht nur durch das politisierende Moment der Jugendunruhen. Viele unter ihnen hatten echten Anlass, das bestehende Curriculum an der Universität zu kritisieren. «Frauengeschichte gab es damals beispielsweise noch gar nicht», erzählt die ehemalige Studentin Eva Krähenbühl. Sie schloss sich Mitte der achtziger Jahre mit einigen Kommilitoninnen zusammen und beantragte, ein Frauentutorat durchführen zu können. Die Antwort fiel zunächst negativ aus. «Man liess uns wissen, dass keine Selbstfindungsgrüppchen finanziert würden», erinnert sie sich. Diese Situation ist kaum vergleichbar mit heute, wo ein breites Angebot von Genderstudies bis hin zu Postkolonialismuskursen besteht.
Die Studierenden, die in den freien Tutoraten neue Themenfelder wie Frauen- oder ArbeiterInnengeschichte beackerten, hatten zudem keine andere Wahl, als zusammenzuarbeiten. Vor den Zeiten von Internet und Social Media mussten Texte füreinander kopiert, Quellen weitergegeben und Verständnisfragen in der Gruppe geklärt werden. «Ich hätte meine Abschlussarbeit gar nicht ohne die Hilfe meiner Freundinnen schreiben können», sagt Krähenbühl.
Ein solcher Austausch ist heute nicht mehr nötig. Sämtliche Artikel wissenschaftlicher Magazine sind mit nur wenigen Mausklicks aufrufbar. Die Universität Zürich stellt ihren Studierenden dazu zahlreiche Sonderberechtigungen zur Verfügung. Und kann man den theoretischen Höhenflügen Michel Foucaults nicht folgen, so schaut man sich einfach ein aufklärendes Filmchen auf Youtube dazu an.
Unter diesen Umständen ist klar, dass freie Tutorate nicht mehr dem Bedürfnis (politisch) engagierter Studierender entsprechen. Selbstorganisierte Kurse gibt es zwar weiterhin, sie dienen heute jedoch eher der Vorbereitung auf eine akademische Karriere als der Kritik an der Uni. So erzählt der 23-jährige Severin Frohofer, der vor kurzem eine Vorlesungsreihe zum Thema «Philosophie des Schmerzes» organisiert hat, dass er damit die Chancen nutzen wollte, neue Erfahrungen zu sammeln und bekannte WissenschaftlerInnen kennenzulernen. «Und es ist ein Pluspunkt im Lebenslauf» – auch wenn er lange habe nachdenken müssen, ob ihm der Aufwand eine Verzögerung seines Studiums wert sei.
Politik statt Bildung
Die Studierenden, die sich heute mit der Bildungsinstitution auseinandersetzen, an der sie täglich ein und aus gehen, beschäftigen andere Themen als diejenigen der achtziger und neunziger Jahre. Denn die Rahmenbedingungen haben sich komplett verändert. Die Bologna-Reform hat das Studieren mit Präsenzpflichten und Abgabeterminen durchstrukturiert und zunehmend ökonomisiert. Die Forschung marktwirtschaftlich interessanter Bereiche wird immer häufiger durch Drittmittel finanziert, deren Ursprung nicht offengelegt wird. Und die UBS hat sogar einen eigenen Lehrstuhl erhalten.
Zum einen ist das Studium mittlerweile ein Job und kein Lebensgefühl mehr. Zum anderen sind für die Studierenden neue, kritikwürdige Problemlagen entstanden. Um diesen zu begegnen, wären freie Tutorate nicht geeignet.
So rief eine Gruppe Studierender 2012 denn auch nicht eine neue Lerngruppe ins Leben, um ihr Unbehagen gegenüber den jüngsten Entwicklungen an der Universität zu äussern, sondern organisierte die Linken Hochschultage. Die Studierenden luden drei Jahre hintereinander international bekannte RednerInnen ein, besetzten ein leer stehendes Gebäude der Universität und veranstalteten dort einen dreitätigen Bildungsmarathon mit Bar, Volksküche und gemeinsamem Brunch. «Die Linken Hochschultage waren eine politische Aktion und kein Weiterbildungsangebot», erklärt Christoph Hager, der das Projekt mitinitiiert hat. Hört man dem Doktoranden zu, wie er über die «bürgerliche Institution Universität» spricht, so wird klar, dass sich die politisch engagierten Studierenden als Teil eines komplexen Klassenkampfs verstehen, der weit über die eigene Fakultät hinausführt.
Dass die Studierenden von heute weniger wissbegierig sind, stimmt nicht – auch wenn wir dem weitverbreiteten Vorurteil immer wieder selbst auf den Leim gehen, über Verschulung und Bologna herziehen und «die gute alte Zeit» verherrlichen. Denn am Umstand, dass es schon immer nur einen eingeschworenen Kreis überdurchschnittlich engagierter Studierender gab, hat sich nichts geändert.