Ein Jahr «Willkommenskultur»: Angela Merkels eigentliche Kehrtwende

Nr. 38 –

Für ihre Asylpolitik wird die deutsche Kanzlerin weithin als Verfechterin der Humanität wahrgenommen. Dabei ist längst das Gegenteil der Fall.

Über keinen PolitikerInnenspruch der letzten Jahre wurde derart heftig debattiert und gestritten wie über Angela Merkels «Wir schaffen das». Inzwischen ist der Satz so oft gedreht und gewendet worden, dass auch der beharrlichste Leitartikler ihn nicht mehr wiederholen mag. Auch die Kanzlerin selbst nahm ihn nach der empfindlichen Niederlage ihrer Partei in Berlin diese Woche zurück. Der Satz sei «zu einer Art schlichtem Motto, fast zu einer Leerformel» geworden, gab sie zu.

Im Zentrum der Debatte steht weiterhin auch Merkels humanitäre Entscheidung vor einem Jahr, mehrere Tausend Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland reisen zu lassen. Bis zum Jahresende kamen beinahe eine Million Menschen ins Land. Glaubt man den Medien, politischen GegnerInnen und Verbündeten, entscheidet sich die Zukunft der Politikerin allein an dieser Tat im September.

Längst ist dabei die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Flüchtlingspolitik einer Verhandlung der Person Merkel gewichen. Die Kritik an der Kanzlerin ist zum Volkssport geworden. Kolportiert wird das Bild einer überforderten Politikerin: Sie habe an diesem Tag im September die Kontrolle verloren, heisst es, sich von ihren Gefühlen leiten lassen. Und es gibt auch einen anderen Vorwurf: Mit ihrer Aufnahmepolitik habe Merkel den Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland (und den Niedergang ihrer eigenen Partei) erst befeuert. «Weiss diese Bundeskanzlerin, was sie tut?», fragten in den vergangenen Wochen und Monaten praktisch alle grossen deutschen Blätter, zuletzt die «Zeit», das Leibblatt des deutschen Bildungsbürgertums. Dass ein männlicher Kollege mit ähnlichen Überforderungsvorwürfen konfrontiert würde, ist eher unwahrscheinlich.

Neben dieser umfassenden Personalkritik bestimmt auch die sogenannte Flüchtlingskrise selbst seit langem den öffentlichen Diskurs – als gäbe es in Deutschland kein anderes gesellschaftlich relevantes Thema. Eher selten war damit übrigens die eigentliche Krise, die der Flüchtlinge, gemeint. Es ging weder um die katastrophale Unterbringung in den überfüllten Camps europäischer Küstenstaaten noch um die Abschottung der Aussengrenzen und das fortwährende tausendfache Sterben im Mittelmeer. Die Rede war stattdessen zumeist von der «Krise», in der sich Deutschland seit der Ankunft der Flüchtlinge vor einem Jahr angeblich befindet.

Massive Verschärfungen

Eine geradezu erhellende Bilanz zog neulich immerhin Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. «Öffentlich wird Merkel noch als Verfechterin der Humanität wahrgenommen. Dabei hat die Bundesregierung in den vergangenen Monaten Massnahmen ergriffen, um die Grenzen Europas dichtzumachen und Flüchtlingen in Deutschland das Leben zu erschweren», sagte er. Tatsächlich war das Flüchtlingsrecht seit 1945 wohl noch nie so scharf wie heute. Und Merkel wird für eine Politik der Humanität wahlweise angegriffen oder gelobt, die es längst nicht mehr gibt. Denn auf die spontan-mutige Flüchtlingsaufnahme im Herbst folgte genauso schnell eine politische Kehrtwende, gepaart mit massiven Verschärfungen des Asylrechts. Und auch wenn die Kanzlerin die beschämende Forderung nach Obergrenzen weiterhin ablehnt, ist die Reduktion der Flüchtlingszahlen seit langem ihr erklärtes Ziel.

Dieser Kurs begann noch im September, als an der bayerisch-österreichischen Grenze Kontrollen eingeführt wurden. Vor den Landtagswahlen im März bekräftigte die Kanzlerin ihn erneut. Und auch jetzt wiederholt sie ihre Maxime: «Ich kämpfe dafür, dass sich eine Situation wie im vergangenen Jahr nicht wiederholen kann. Diesem Ziel dienen alle Massnahmen der letzten Monate», so Merkel. Wer den wahren Flüchtlingskurs der Regierung erkennen wollte, brauchte nur ein paar Reden zu hören oder Pressemitteilungen des Kanzleramts zu studieren.

Auf europäischer Ebene bestand die wohl wichtigste Abschottungsmassnahme im Abschluss des Deals mit der Türkei im März. Gemäss dem Abkommen wird seither jeder Flüchtling auf seinem Weg nach Griechenland abgefangen und zurück in die Türkei gebracht, zumindest theoretisch. In Kombination mit der faktischen Schliessung der «Balkanroute» bedeutet der Deal, dass es mittlerweile kaum noch Flüchtlinge nach Deutschland schaffen. Und auch das Dublin-Abkommen – es verhindert praktisch, dass Flüchtlinge überhaupt nach Deutschland gelangen – ist nach einer kurzen Pause längst wieder in Kraft.

Derweil im Januar noch etwa 2000 Menschen ins Land kamen, sind die Zahlen seither stetig gesunken. Zwar hatte Deutschland als treibende Kraft im Umverteilungsverfahren der EU zudem einmal versprochen, knapp 30 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen. Die Bilanz jedoch ist mager: Angekommen sind bisher lediglich 215. Mit einer Reihe afrikanischer Mittelmeerstaaten wie Ägypten oder Libyen werden unter der Führung Berlins Abkommen ähnlich dem EU-Türkei-Deal verhandelt. Und in der Regierungskoalition wird darüber debattiert, weitere Länder zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten zu erklären – darunter der Südsudan oder Somalia, deren Diktaturen eben gerade die Ursache von Flucht sind. Die Länder des Westbalkans und des Maghreb gelten bereits als «sicher».

Immer neue Gesetze

Auch in Deutschland selbst ist der Herbst der Solidarität längst einem Winter der Verschärfungen gewichen. Zwei neue Asylgesetze und ein «Integrationsgesetz» wurden von der Grossen Koalition auf den Weg gebracht. Die Regierung beschränkte den Familiennachzug, ersetzte Bargeld- durch Sachleistungen, verschärfte die Ausschaffungspraxis und führte zweifelhafte Schnellverfahren und eine Residenzpflicht ein, die auch anerkannten und vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen vorschreibt, wo sie sich niederlassen dürfen.

Hatten 2015 noch praktisch alle Flüchtlinge aus Syrien Asyl erhalten, ist die Anerkennungsquote in diesem Jahr um rund fünfzig Prozent zurückgegangen: Inzwischen wird fast die Hälfte nur noch vorläufig aufgenommen. Zugleich wurde der Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene vorübergehend ausgesetzt. Ähnliches gilt für Menschen aus dem Irak, Afghanistan und Eritrea. Auch ihre Asylgesuche werden seltener anerkannt, viele erhalten nur noch vorübergehenden Schutz. Und zwanzig Prozent der Asylgesuche von IrakerInnen wurden ganz abgelehnt.

Parallel zu diesen Verschärfungen nimmt auch die Zahl der Rückschaffungen zu. Waren im vergangenen Jahr knapp 21 000 Menschen aus Deutschland ausgeschafft worden, sind es bereits im ersten Halbjahr 2016 fast 14 000. Und es mehren sich diejenigen Stimmen, die die vollständige Einhaltung der Dublin-Verordnung fordern und darum ersuchen, Flüchtlinge wieder nach Griechenland ausschaffen zu können. 2011 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Praxis untersagt, weil ein korrektes Asylverfahren in Griechenland nicht garantiert werden könne. Heute harren dort, an Europas Grenze, fast 60 000 Menschen aus, und die Situation vor Ort ist auch weiterhin prekär.

Die vielfach geforderte Kehrtwende in der deutschen Flüchtlingspolitik ist also längst vollzogen. Umso bemerkenswerter ist ein Satz, den die Kanzlerin bei ihrer Pressekonferenz am Montag auch sagte – und der bei der medialen Erleichterung über die «Neuausrichtung der Regierungspolitik» beinahe unterging: «Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückdrehen, um mich besser vorbereiten zu können auf die Situation, die uns dann im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet traf», erklärte Merkel. Damit gestand die Politikerin endlich ein, sich zu lange auf das Dublin-Privileg verlassen zu haben. Und sie artikulierte ihr eigentliches Versagen: Es war nicht die humanitäre Entscheidung im Spätsommer 2015, sondern die Ignoranz all der Jahre zuvor.