Schimon Peres (1923–2016): Der Vater der israelischen Realpolitik
Als Schimon Peres am Mittwoch 93-jährig verstarb, war die Reaktion in der westlichen Welt einhellig: Der grosse Politiker – der letzte aus der Gründergeneration des jungen Staates Israel – sei ein Mann des Friedens gewesen. Oder, gemäss einer gemeinsamen Erklärung des früheren US-Präsidenten Bill und der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton: «ein Genie mit einem grossen Herzen, der seine Begabung nutzte, um eine Zukunft vorstellbar zu machen, die von Versöhnung statt von Konflikt geprägt ist».
Tatsächlich gilt Peres als der eigentliche Architekt des Oslo-Friedensprozesses, der eine Beendigung der israelischen Besatzung und die Gründung eines palästinensischen Staates zum Ziel hat. Das brachte Peres 1994 den Friedensnobelpreis ein und machte die Versöhnung zwischen Israelis und PalästinenserInnen vorstellbar. Dass sich diese Vision nie in der Praxis niederschlug und heute verblasst ist, liegt aber nur zu einem geringen Teil daran, dass Peres’ Arbeiterpartei die Wahl von 1996 verlor und seither der friedensverachtende Likud des heutigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Drücker ist.
Denn Peres war nicht ein Genie mit grossem Herzen, sondern eines mit grosser Begabung für Realpolitik. In den sechziger Jahren machte er sein Land gegen den Willen der USA zu einer Atommacht – Israel geniesst seither im Nahen Osten den Status eines unbesiegbaren Staates und eines protegierten Alliierten der USA. Nach dem Sieg im Sechstagekrieg 1967 war Peres als Verteidigungsminister für den Bau der ersten staatlich geförderten jüdischen Siedlungen im Westjordanland verantwortlich. Später ermöglichte er aber das Friedensabkommen mit dem früheren Kriegsgegner Jordanien.
Als Peres letztes Jahr Netanjahu vorwarf, die Zweistaatenlösung zu begraben, so tat er auch dies nicht als Mann des Friedens, sondern als Mann der Realpolitik. Denn die einzige realistische Alternative zu einer Zweistaatenlösung wäre ein Grossisrael, in dem die jüdische Bevölkerung zur Minderheit würde. Netanjahu scheint zu vergessen, dass es im Interesse Israels ist, an der Zweistaatenlösung festzuhalten – oder zumindest an deren Vorstellbarkeit. Da könnte er von der realpolitischen Begabung seines von ihm verachteten Vorgängers Peres noch viel lernen.