Fünfzig Jahre nach dem Sechstagekrieg: Die ewige Zwischennutzung Palästinas

Nr. 22 –

Ein halbes Jahrhundert nach der Besatzung der Palästinensergebiete erscheint ein Abzug Israels unwahrscheinlicher denn je. Nicht nur israelische SiedlerInnen, auch einige progressive PalästinenserInnen fordern eine Annexion.

Benjamin Netanjahus Freude hielt sich in Grenzen, als Präsident Donald Trump vom US-Mantra in der Nahostpolitik, der Zweistaatenlösung, Abstand nahm. Vor dem ersten Treffen der beiden meinte Trump: «Ich sehe mir sowohl zwei Staaten an als auch nur einen.» Trump hatte schon richtig verstanden, dass Netanjahu keinen Staat Palästina will – das hatte der israelische Premier oft genug wiederholt. Was Trump jedoch nicht begriffen hat, ist, dass Netanjahu genauso wenig eine Einstaatenlösung will. Nach dem Treffen beruhigte Netanjahu die Medien: «Ich will das Westjordanland nicht annektieren.» Weder Abzug noch Annexion, was will er dann? Dasselbe wie viele israelische Regierungen vor ihm: Siedeln für die Ewigkeit und dabei so tun, als handle es sich nur um eine Zwischennutzung, die rückgängig gemacht werden könnte, wenn dereinst eine Zweistaatenlösung gefunden wäre. Fünfzig Jahre nachdem das Westjordanland de facto zu einem Teil Israels wurde, haben die PalästinenserInnen noch immer keine Bürgerrechte. Damit das nicht ganz wie Apartheid aussieht, wird die Fassade eines Provisoriums aufrechterhalten.

Während des ersten arabisch-israelischen Krieges von 1948/49 hatte die israelische Armee rund 700 000 PalästinenserInnen von dem Boden vertrieben, der dann das Gebiet des neuen Staates Israel wurde. Mit dieser Vertreibung sollte – so israelische Historiker wie Benny Morris oder Ilan Pappé – eine möglichst deutliche jüdische Bevölkerungsmehrheit erreicht werden. Als Israel im Zuge des Sechstagekriegs im Juni 1967 unter anderem Gaza und das Westjordanland besetzte, zwang es damit eine Million PalästinenserInnen unter seine Hoheit – und das «demografische Dilemma», das mit der Vertreibung schon gelöst schien, war auf einmal wieder da.

Die israelische Regierung wollte damals den Sechstagekrieg ebenso wenig wie die ägyptische. Eher war beiden ein Kräftemessen aus dem Ruder gelaufen. Israel hatte im April 1967 den ägyptischen Bündnispartner Syrien wiederholt provoziert, indem es Militärjets über Damaskus kreisen liess. Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser glaubte, in der Folge Kampfbereitschaft signalisieren zu müssen. Also verjagte er die Blauhelmsoldaten aus dem Sinai, die dort den Waffenstillstand überwacht hatten. Statt ihrer verschob er eigene Truppen an die Grenze. Mit der zusätzlichen Schliessung der Meerenge von Tiran für die israelische Schifffahrt pokerte Nasser zu hoch: Nun wähnten sich die israelischen Militärs in Zugzwang – ihre Glaubwürdigkeit stand auf dem Spiel. Der israelische Premier- und Verteidigungsminister Levi Eschkol wollte zwar noch immer einen Krieg mit Ägypten vermeiden. Aber dann stotterte er sich bei einer Radioansprache am 29. Mai 1967 um eine klare Aussage herum. Schon zuvor war ihm Zaudern vorgeworfen worden, nun zwang ihn öffentlicher Druck, das Verteidigungsministerium an den populären Landwirtschaftsminister und Militär Mosche Dayan abzutreten. Unter dessen Führung schlug das israelische Militär vier Tage später «präventiv» zu: Die gesamte ägyptische Luftwaffe wurde am 5. Juni 1967 binnen dreier Stunden vernichtet, und nach sechs Tagen hatte Israel den gesamten Sinai, den Gazastreifen, das Westjordanland und die Golanhöhen eingenommen.

Kriegsbeute spaltet Israel

Vor allem die Frage, wie mit dem besetzten Westjordanland inklusive Ostjerusalem zu verfahren sei, spaltet seither die israelische Gesellschaft. Einerseits befriedigte die unverhofft erlangte Kontrolle über die «ewige Stadt» mit der Klagemauer und das Westjordanland die Sehnsüchte sowohl vieler orthodoxer JüdInnen als auch säkularer ZionistInnen. Andererseits sprachen nicht nur völkerrechtliche und ethische Gründe für eine Rückgabe und gegen die Annexion der Gebiete, sondern eben auch die Million PalästinenserInnen, die sie bewohnten. Das «demografische Dilemma» wurde vom Tag eins der Besatzung an in Politik und Medien diskutiert. Im Fall einer Annexion müsste Israel die PalästinenserInnen entweder in den Staat integrieren, würde damit aber die jüdische Bevölkerungsmehrheit gefährden, oder aber sie müssten irgendwie ausgegrenzt werden, wodurch Israel seinen demokratischen Anspruch verlieren würde. Rechtsextreme Ideen eines «Bevölkerungstransfers» der PalästinenserInnen in andere arabische Staaten wurden zwar diskutiert, waren aber nie mehrheitsfähig.

In den Grundzügen blieb die Spaltung zwischen jenen, die bereit sind, die Gebiete unter gewissen Bedingungen zurückzugeben, und jenen, die sie annektieren wollen, bis heute bestehen. Um diesen Graben überbrücken zu können, wurde nach der Besatzung ein Kompromiss gefunden, der das Problem – wenn auch nur rhetorisch – handhabbar macht.

Ein rhetorischer Winkelzug

Der Kompromiss, so schreiben Ariella Azoulay und Adi Ophir in ihrem 2013 erschienenen Buch «The One-State Condition», begann mit der Benennung der palästinensischen Gebiete: Diese «besetzte Gebiete» zu nennen, hätte Israel zur Achtung der Genfer Konventionen verpflichtet, die der Besatzungsmacht die Besiedlung besetzter Gebiete verbietet. Zudem würde die Bezeichnung anerkennen, dass jemand anderes als Israel einen legitimen Anspruch auf die Gebiete hat. Sie hingegen «annektierte» oder einfach israelische Gebiete zu nennen, würde – abgesehen davon, dass es ebenfalls völkerrechtswidrig wäre – zur Gleichstellung der PalästinenserInnen verpflichten. Darüber hinaus würde eine Annexion die Option einer Rückgabe der Gebiete, wie ein Teil der Linken sie forderte, und später eine Zweistaatenlösung ausschliessen.

So einigte man sich bald nach der Besatzung auf die Terminologie «gehaltene Gebiete». Die Beantwortung der Frage, ob sie dereinst annektiert oder zurückgegeben werden sollten, wurde so rhetorisch in eine unbestimmte Zukunft verschoben. Auf dieser Grundlage entwickelte Israel laut Azoulay und Ophir eine umfassende Verwaltungsterminologie und -praxis, die es ermöglicht, die zionistisch oder religiös motivierte Sehnsucht nach dem «ewigen Land» mit einem rechtlichen Minimalanspruch zu verbinden: Der gegenwärtige Zustand gilt offiziell als befristet.

Mangels mehrheitsfähiger Alternativen lernten die israelischen Blöcke gut, mit dem Kompromiss zu leben. Rhetorisch näherte sich die rechte Likud-Partei zaghaft der Arbeiterpartei an und lehnt seit 2009 eine Zweistaatenlösung nicht mehr absolut ab. In der Praxis hingegen kam die Arbeiterpartei immer schon den Rechten entgegen, indem sie die Besiedlung der «gehaltenen Gebiete» stets mittrug. Levi Eschkol als Premierminister der Arbeiterpartei erkundigte sich gleich am ersten Tag nach dem Sechstagekrieg bei einem Siedlerfreund, ob die Besiedlung Gusch Etzions, das südöstlich von Jerusalem im Westjordanland liegt, möglich wäre. Drei Monate später wurde hier die erste jüdische Siedlung ausserhalb der von der Uno anerkannten Grenze Israels gegründet. Noch im Juni wurde das palästinensische Ostjerusalem annektiert. Um dem Tadel der Weltgemeinschaft vorzubeugen, war der betreffende Gesetzestext laut dem Historiker Tom Segev als ein reiner Verwaltungsakt zur Aufrechterhaltung der Wasser- und Stromversorgung getarnt.

Besiedlung von «links»

Ebenfalls bereits im Sommer 1967 wurde die Gültigkeit der israelischen Gesetzgebung auf israelische BürgerInnen in den besetzten Gebieten ausgeweitet, während PalästinenserInnen einem Gemisch aus jordanischem Recht, wie es vor dem Krieg galt, und der Gesetzgebung der israelischen Militärverwaltung unterstanden. Die rechtliche Segregation, die in Teilen auch fünfzig Jahre später noch gilt, fand ihren Anfang. Alle israelischen Regierungen duldeten fortan die Besiedlung des Westjordanlands, die meisten förderten sie. Einen Höhepunkt erreichte die Besiedlung ausgerechnet in der ersten Hälfte der neunziger Jahre unter Premierminister Jitzhak Rabin von der Arbeiterpartei. Während seiner Amtszeit zwischen 1992 und 1995 stieg die Zahl der SiedlerInnen um vierzig Prozent. Und trotzdem arbeitete er von allen Regierungschefs am glaubwürdigsten auf eine Zweistaatenlösung hin. 1993 unterzeichnete er mit Jassir Arafat, dem damaligen Palästinenserpräsidenten, das Osloer Friedensabkommen.

Dieses Abkommen sah einen schrittweisen Ausbau der palästinensischen Autonomie mit dem Endziel eines palästinensischen Staates in Gaza und dem Westjordanland vor – auf jenen 22 Prozent der Fläche des ehemaligen britischen Mandatsgebiets, die Israel 1948/49 noch nicht eingenommen hatte. Seither bekannten sich alle israelischen Regierungen mehr oder weniger direkt zu dieser Zweistaatenlösung. Die einen – jene unter Schimon Peres und Ehud Barak –, weil sie wohl tatsächlich Frieden wollten; die anderen – darunter die aktuelle Regierung Netanjahu –, weil ihnen die Idee der Zweistaatenlösung dazu dient, die Fassade von den lediglich befristet «gehaltenen Gebieten» aufrechtzuerhalten.

Bürgerrechte statt Nation

Die Palästinensische Autonomiebehörde versuchte seit ihrer Schaffung im Zuge des Oslo-Prozesses, die Errichtung eines palästinensischen Nationalstaats zu erreichen. Genützt hat es nichts, und die Aussicht auf Erfolg scheint heute schlechter denn je. Immer mehr PalästinenserInnen gelangen deshalb zur Ansicht, dass für sie jede Option besser ist als der Status quo. Was für Israel nämlich «weder Annexion noch Abzug» heisst und ein ewig fortsetzbarer Kompromiss zwischen seinen politischen Lagern ist, bedeutet für die PalästinenserInnen, weder palästinensische noch israelische Bürgerrechte zu haben. Einen palästinensischen Staat können sie nicht erzwingen, so viel haben die vergangenen fünfzig Jahre gezeigt. Wenigstens Israel zu einer Entscheidung zwischen Annexion und Abzug zu drängen, dafür stünden die Chancen vielleicht besser.

Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh provozierte mit seinem Buch «What Is a Palestinian State Worth?» 2012 sowohl israelische als auch palästinensische NationalistInnen. Der Vorschlag darin: Lasst uns unilateral auf eine palästinensische Nation verzichten und stattdessen unsere Bürgerrechte in Israel einfordern. Ohne die Forderung nach einem palästinensischen Staat, so das Kalkül, würde der Status quo der vorgeblichen Befristung beraubt und gänzlich unhaltbar. Israel müsste nun seinerseits einen palästinensischen Staat fordern und verwirklichen helfen – oder aber dazu stehen, dass es das Westjordanland annektiert hat. Spätestens dann aber müsste es den PalästinenserInnen Bürgerrechte gewähren, um zu vermeiden, ein Apartheidstaat zu sein. Dass der Vorschlag Sprengkraft hat, zeigte die Beunruhigung, die vor zwei Jahren die angedeutete Drohung der palästinensischen Autonomiebehörde, sich selbst aufzulösen, bei der israelischen Regierung verursacht hatte. Das Zentralkomitee der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) empfahl damals Präsident Mahmud Abbas die Auflösung der Behörde. Diana Buttu – die palästinensische Kanadierin gehörte in den nuller Jahren zum Verhandlungsteam der PLO – erneuerte die Forderung am vergangenen Freitag in der «New York Times». Aber Macht schafft sich nicht selbst ab, und Abbas, einer der wenigen Palästinenser, die im Status quo auch ganz gut leben, hält bis heute an der Autonomiebehörde als dem vermeintlichen Embryo eines zukünftigen Staates Palästina fest.