Didier Eribon: Zurück zu den entscheidenden Kämpfen
Ein bekannter französischer Soziologe schreibt über seine sexuelle und soziale Scham als Schwuler und Arbeiterkind. «Rückkehr nach Reims» ist das Buch der Stunde, obwohl es bereits sieben Jahre alt ist.
Was nach diesem Sommer der hymnischen Rezensionen und begeisterten privaten Lektüren klar ist: Alle, wirklich alle, finden Didier Eribons Buch «Rückkehr nach Reims» gut. Rechte Zeitungen wie die «Basler Zeitung» ebenso wie der linke «Freitag» loben, es sei ein «brisantes politisches Bekenntnisbuch» und ein «Aufruf zu radikaler Selbstkritik».
Eribons halb autobiografisch-persönlicher, halb soziologisch-analytischer Bericht über die Rückkehr in die Stadt seiner Kindheit nach Jahrzehnten der Distanz scheint einen Nerv der – ausschliesslich männlichen – deutschen Rezensenten getroffen zu haben. Was ist das für ein Text, auf den sich plötzlich alle einigen? Und warum diese Einigkeit? Der Suhrkamp-Verlag brachte «Rückkehr nach Reims» direkt als günstiges Taschenbuch auf den Markt, weil man sieben Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen in Frankreich anscheinend nicht mehr mit einer derart enthusiastischen Rezeption gerechnet hatte.
Prekäre Verhältnisse
«Rückkehr nach Reims» versammelt ein paar der entscheidenden Probleme unserer Zeit. Sie verdichten sich in einer zeitgenössischen Autobiografie, die nicht im Privaten stecken bleibt, sondern stets nach den grösseren gesellschaftlichen Zusammenhängen fragt. Warum wählen einst linke ArbeiterInnen heute rechtsextreme Parteien wie den Front National? Wie ist das Verhältnis von Identitätspolitik und Klassenkampf? Implizit zeichnet Eribon nichts weniger als die Skizze einer schlagkräftigen linken Politik auf der Höhe unserer Zeit.
Eine erste Spur legen die blossen Umrisse von Eribons eigener Lebensgeschichte. Er wird 1953 in die Armut hineingeboren. Seine Eltern arbeiten beide in der Fabrik, man lebt in engen und auch sonst sehr prekären Verhältnissen in Reims, er spürt «die Klassenzugehörigkeit am ganzen Leib». Doch im Unterschied zu seinen Brüdern schafft Didier – nicht zuletzt dank zusätzlicher Arbeitseinsätze seiner Mutter – als Einziger seiner Familie den Sprung an eine höhere Schule. Später beginnt er ein Philosophiestudium in Reims, setzt es in Paris fort, und heute gilt er als einer der bekanntesten Intellektuellen Frankreichs. Nicht nur die wichtigste Biografie zu Michel Foucault hat er verfasst, sondern auch einen klugen, elegant geschriebenen Essay zur Homosexualität, «Réflexions sur la question gay», der leider bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde.
Eribons Weggang aus Reims war entschieden eine Flucht. Zuallererst vor der jähzornigen Abgestumpftheit des Vaters, der besoffen auch handgreiflich werden konnte. Überhaupt erscheint dieses Elternhaus als Hort einer explosiven Verzweiflung und antiintellektuellen Mackerkultur. Man arbeitete oder trank bis zum Umfallen, ohne geistige Gegenwelten oder andere Ausbruchmöglichkeiten. Geflohen ist Eribon aber auch vor der Homophobie im dumpfen Kleinstadtklima, das ihn als Schwulen und den Büchern Verfallenen schon immer zum Aussenseiter gemacht hat. Am anderen Ende dieser Flucht, in der Pariser Akademiker- und Intellektuellenszene, stösst Eribon wiederum auf neue Schwierigkeiten und Fremdheiten. Denn natürlich widerstreben ihm auch die «Wachhunde des Bürgertums», wie er sie mit Paul Nizan nennt, die sich ständig mit Insidercodes und anderen Abgrenzungsmanövern der eigenen Überlegenheit und Kultiviertheit versichern.
Befreiendes Maskenspiel
Er entfernt sich von seiner Familie und Herkunft, ein paar Postkarten und Telefonate mit der Mutter sind jahrzehntelang die einzige Verbindung. Diese radikale Distanzierung ist die Bedingung, um am anderen Ort trotz aller Fallstricke anzukommen. Seine Homosexualität, die ihn in Reims zum Aussenseiter stempelte, dient ihm im Pariser Intellektuellenmilieu bald als Türöffner und Tarnung. Seine schwule Identität überlagert die in der neuen Umgebung plötzlich viel skandalösere und schambesetzte Arbeiterherkunft und hilft ihm dabei, sich neu zu erfinden. Ein durchaus befreiendes Maskenspiel beginnt, das seine intellektuelle Karriere beflügelt. Auch als Akademiker beschäftigt er sich viel eher mit schwulen Themen als mit der Klassenfrage.
Bei seiner «Rückkehr nach Reims» nach dem Tod des Vaters bemerkt Eribon überrascht, dass seine Homosexualität kein grosses Thema mehr zu sein scheint. Man erzählt ihm gar, sein verstorbener Vater und einer seiner Brüder hätten ihn gegen homophobe Anfeindungen verteidigt. Gleichzeitig muss er erschrocken feststellen, dass seine Mutter, die früher wie die ganze Familie stramm kommunistisch wählte, nun dem Front National ihre Stimme gibt, ebenso seine Brüder.
Parallel zu einem bescheidenen sozialen Aufstieg – eine etwas bessere Position in der Fabrik, eine etwas komfortablere Wohnung – hat sich da etwas Grundlegendes verschoben. Nach rechts. Als Scharnier dient eine alte Ausländerfeindlichkeit, die gemäss Eribon bereits da war, als man noch kommunistisch wählte. Mit der Zeit liess man sich einreden, man sei nicht mehr auf der untersten gesellschaftlichen Hierarchiestufe, wollte sich wohl auch selbst immer weniger als ArbeiterIn identifizieren, während das Feindbild «AusländerInnen» weiter in den Vordergrund rückte. Die Arbeiterklasse opferte ihren Stolz und den emanzipatorischen Kampf und tauschte ihn gegen eine Vereinnahmung durch rechte Parteien ein.
Den eigentlich entscheidenden Widerstand gegen die ökonomische Ausbeutung liess man sich durch weitgehend nutzlose Spiegelfechtereien gegen die «classe politique», die Elite und «die Intellektuellen» nehmen. All das geschah auch aus dem Gefühl heraus, von der Linken nicht mehr richtig vertreten zu werden. Der ehemalige französische Staatspräsident François Mitterrand und die machthabenden «linken Parteien mit ihren Partei- und Staatsintellektuellen» werden von Eribon als Schuldige auf dem Parkett der französischen Politik benannt. Gleichzeitig offenbart sich hier ein aussagekräftiger blinder Fleck seines eigenen Buchs: Auch die kühle Abwendung Eribons von seinen Eltern, gekoppelt an seine Hinwendung zum bloss abstrakten Klassenkampf in der philosophischen Auseinandersetzung mit Marx und Co., spiegelt die Art und Weise, wie sich die offizielle Linke von den ArbeiterInnen entfernt hat und so den Aufstieg des Front National begünstigte. Lange Zeit geschah dies weitgehend im Windschatten der allgemeinen Aufmerksamkeit.
Braucht die linke Politik der Zukunft demnach eine Rückkehr zu mehr Klassenkampf und weniger Identitätspolitik, wie immer wieder vermutet wird? Aus Eribons Biografie wie auch aus den mit eingeflochtenen Lebensgeschichten seiner Eltern lässt sich ableiten, dass es eben zwingend beides braucht: die Software der Identitätspolitik und die Hardware des Klassenkampfs. Und dass beide sich im Idealfall auch gegenseitig unterstützen könnten. Liest man ausserdem aktuelle Studien zum sprunghaften Anstieg von «hate crimes» gegen Homosexuelle nach der Brexit-Abstimmung oder zur stetigen Zunahme rechtsradikaler Anschläge in Deutschland, wird klar, dass Rechtsrutsch, Populismus und Nationalismus ein starkes Engagement für sexuelle und andere Minderheiten wieder bitter nötig machen werden.
So beantwortet sich indirekt auch die Frage nach einer zeitgemässen linken Politik: Man müsste die neueren Kämpfe geschickter mit den alten linken Kämpfen verlöten zu einer beherzten solidarischen Rebellion, von der sich die Menschen wieder realistisch repräsentiert fühlen, auch als Immunisierung gegen hetzerische Feindbilder und falsche Versprechungen. Die von vielen als modisch und oberflächlich verschriene Identitätspolitik – zu der insbesondere auch die Bekämpfung von Rassismus und Sexismus gehört – kann dem Klassenkampf dabei durchaus einen Weg weisen. Und umgekehrt – bedingen sich doch ökonomische und kulturelle Fragen stets gegenseitig.
Gönnerhaft verzerrt
Bleibt das Rätsel, wie sogar ein Tilman Krause als erzkonservativer Literaturredaktor der deutschen Zeitung «Die Welt» Eribons Buch gut finden kann. Der stets stramm traditionalistisch und elitär argumentierende Krause hat in vergangenen Jahrzehnten wiederholt den behaupteten Niedergang der Universitäten den scharenweise aus sogenannt bildungsfernen Unterschichten eingewanderten StudentInnen zugeschrieben. Nun handelt «Rückkehr nach Reims» von einem in die Akademie eingewanderten Arbeiterkind, obwohl dies vom System nicht vorgesehen war. Wenn Krause das Buch trotzdem lobt, muss er die biografischen Brüche und Abgründe, die Eribon genau beschreibt, kleinreden. Er tut dies, indem er sie paternalistisch als allgemeingültige Erfahrung abtut. Müssen wir uns nicht alle irgendwann von unseren Eltern distanzieren? Ausserdem wirft Krause Eribon Aussenseiterromantik vor: In Anbetracht seiner erfolgreichen Biografie sei es doch müssig zu jammern. Ein Aufstieg sei ja zu schaffen, und bürgerliche Feindbilder seien für einen derart kultivierten Menschen wie Eribon schlicht lächerlich. Dass es weiterhin kaum Arbeiterkinder gibt, die den akademischen Weg ganz nach oben schaffen, lässt Krause unerwähnt.
Krauses gönnerhaft verzerrtes Lob verweist deshalb ungewollt präzis auf den unauflösbaren Knoten aller Probleme, die Eribon analysiert: Wer «dazugehören» will, muss die konkrete Erfahrung der Arbeiterherkunft aufgeben. Er muss sich von sich selber distanzieren. Deshalb kann er später nur noch abstrakt und – wie «Rückkehr nach Reims» zeigt – zum Teil auch abschätzig und unverständig über sein Elternhaus schreiben. Das ist die Bedingung, um sogar von einem wie Krause an die Brust gedrückt zu werden.
Wer aber aus «Rückkehr nach Reims» nur die Erfolgsstory eines Aussenseiters herauslesen will, der im US-amerikanischen Stil vom Arbeiterkind zum Intellektuellenstar aufgestiegen ist, hat nicht verstanden, worum es in diesem Buch geht. Und warum es auch mehr als sieben Jahre nach seiner Niederschrift noch brandaktuell ist.
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp Verlag. Berlin 2016. 238 Seiten. 26 Franken