Hyperpolitik: Die neuen Aufstände jenseits von Nostalgie und Zukunftseuphorie

Nr. 19 –

In welchem politischen Zeitalter leben wir? Die Parteien leiden unter Mitgliederschwund, gleichzeitig florieren die Proteste. Und Michel Houellebecq, Chronist der Postpolitik, hat den Boden unter den Füssen verloren.

Foto aus der Nachtlebenserie von Fotograf Wolfgang Tillmans
Politik und Geschichte werden Ende der achtziger Jahre einfach weggetanzt: Fotograf Wolfgang Tillmans dokumentiert in seiner ­Nachtlebenserie eine Übung in kollektiver Amnesie. Foto: Wolfgang Tillmans, «Love (hands in hair)», 1989; Courtesy Galerie Buchholz

Die Fotografien schimmern hell, beinahe glimmend. Ihr gemeinsames Thema ist Liebe. In einem Porträt mit dem Titel «Love (hands in hair)» wird der Kopf einer Frau mit ­rötlichem Haar und geschlossenen Augen von zwei männlichen Händen gepackt, die von aussen ins Bild greifen. In einer anderen Fotografie tanzt ein Mann in Jeansjacke allein. Die Menschen auf den Fotografien tanzen zu Musik, die nach den Geräuschen der Industriemaschinen von Detroit und Manchester modelliert ist, den Zwillingsstädten des Techno.

1989 allerdings, als die Fotos aufgenommen wurden, standen diese Maschinen still. Die meisten von ihnen waren abgebaut und teilweise nach China ausgelagert worden, die Zwillingsstädte des Techno sind deindustrialisiert. Als die deutsche Fotografin Hilla Becher ein paar Jahre zuvor durch eine chinesische Megastadt reiste, bemerkte sie die zusammengebaute Kopie eines Stahlwerks, das sie einst in Europa fotografiert hatte. Die jungen Menschen in Wolfgang Tillmans’ Nachtlebenserie versuchen, Industrie, Politik und selbst die Geschichte einfach wegzutanzen.

Zeit und Ort von Tillmans’ Fotografien sind bemerkenswert. Sie dokumentieren ein thatcheristisches London und ein Berlin, wo die Mauer langsam bröckelt. Im Osten nähert sich der Staatssozialismus dem Kollaps. Ein rigoros globalisierter Kapitalismus triumphiert, die westliche Deindustrialisierung beschleunigt sich. Im selben Jahr, als der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama seinen berüchtigten Essay zum «Ende der Geschichte» publiziert, wird Tillmans’ Kamera Zeugin einer Übung in kollektivem Gedächtnisverlust. Ein Zeitalter der «Postpolitik» beginnt.

Doch schon Ende der 2010er Jahre sieht Tillmans’ Welt verstörend anders aus. Er engagiert sich in der Mainstreampolitik, lanciert 2016 eine Posterreihe für die «Remain»-Kampagne, die sich für den Verbleib von Grossbritannien in der EU einsetzt: «Kein Mensch ist eine Insel. Kein Land für sich selbst»; «Was verloren ist, ist für immer verloren»; «Es ist eine Frage, wo man sich zugehörig fühlt. Wir sind eine europäische Familie.» Die Slogans stehen vor einem träumerischen Hintergrund: Tillmans zeigt Bilder des Himmels, wie er aus einem Flugzeugfenster aussieht. Er war in den frühen Achtzigern als Bub zum ersten Mal in Grossbritannien, seine Flyer für die «Remain»-Kampagne sollen nun die verlorenen Welten von 1989 retten. «Selbstverständlich hat das nicht funktioniert, wie immer», erinnert er sich.

Man kann Tillmans’ romantische Referenzen gut verstehen. Die vierzig Jahre lang gehegte persönliche Utopie des Künstlers ist zerbrochen, und er reagierte darauf mit einer Suche nach Analogien aus den neunziger Jahren: mit Figurationen von Empathie, Einheit, Liebe. In dieser Hinsicht erwies er sich als typisches Kind eines postrevolutionären Zeitalters. Wie der französische Philosoph Jean Baudrillard 1994 notierte: «Die Menschenrechte, die Dissidenz, der Antirassismus, SOS-dies, SOS-das» waren «weiche, einfache, post-coitum-historicum-Ideologien ‹nach der Orgie›, für eine umgängliche Generation, die weder harte Ideologien noch radikale Philosophien» kannte. Die neue Generation bestand aus «verwöhnten Krisenkindern», die vorangegangene Generation waren «die verfluchten Kinder der Geschichte», so Baudrillard.

Tillmans’ Rendezvous mit den «verwöhnten Krisenkindern» würde allerdings bald zu einem Ende kommen, wie auch Fukuyamas «Ende der Geschichte». Doch das neue politische Zeitalter erlebte keine integrale Neugeburt der «Massenpolitik», von der Tillmans’ Party­gänger:innen 1989 befreit worden waren. Die Zeit war «politisch», keine Frage, doch ihre Politik überlagerte und ergänzte die Post­politik der Neunziger auf beunruhigende Weise: Das Private und das Öffentliche wurden neu kombiniert, aber auf eine Art, die uns aus dem klassischen Zeitalter der Demokratie komplett unvertraut war.

Die so entstehende Ordnung, die ich «Hyperpolitik» nenne, stellt eine Herausforderung dar. Der Zerfall der «Postpolitik» ist offensichtlich, wie auch die Unzulänglichkeit des politischen Vokabulars, das wir aus dem 20. Jahrhundert geerbt haben, um das nächste zu beschreiben. Deshalb brauchen wir ein neues Bezugssystem für unsere Gegenwart.

Suche nach der Blackbox

In ihrem autobiografischen Roman «Die Jahre» gibt uns die französische Nobelpreisträgerin Annie Ernaux einen Rückblick auf die Mitte der neunziger Jahre, der an Tillmans’ Nachtlebenbilder erinnert: «Eine politische Endzeitstimmung breitete sich aus. Eine ‹neue Weltordnung› wurde ausgerufen. Das Ende der Geschichte sei nahe […]. Das Wort ‹Kampf› wurde als Überbleibsel des Marxismus entsorgt, den niemand mehr ernst nahm, und mit ‹Widerstand› war nur noch der Widerstand der Verbraucher gemeint.»

Als der Roman erschien, diagnostizierte Ernaux eine sich verschliessende, klösterliche Welt, die Bürger:innen hatten sich ins Privatleben und in die Abschottung zurückgezogen. «Für unser persönliches Leben», erinnert sie sich, «hatte die grosse Geschichte keine Bedeutung.» Politik lief auf Sparflamme. Technokrat:innen, zumeist aus den Zentralbanken und anderen Institutionen, vom IWF bis zur EU-Kommission, nahmen die Zügel in die Hand. Der Triumph des Privaten geschah zum Preis einer systematischen Marginalisierung des Öffentlichen.

Im Gegensatz zu Tillmans’ glorreicher Befreiungsgeschichte gelang es Ernaux, den Übergang in die Postpolitik mit einer konzentrierten Uneindeutigkeit zu dokumentieren: Sie sah nicht durch die Brille der neuen Ordnung, sondern um sie herum. «Weil man sich politisch von niemandem mehr vertreten fühlte, konnte man genauso gut tun, wozu man Lust hatte», schreibt sie in «Die Jahre». Die politischen Debatten versanken in einem Strom aufgekratzter Banalität. Wahlanalysen glichen der Suche nach der Blackbox nach einem Flugzeugabsturz, «das Volk» mutierte zur Naturkatastrophe, und die Kommentator:innen zerbrachen sich über die schwindende Wahlbeteiligung die Köpfe. «Alles ist erlaubt, aber nichts ist möglich», fasste der französische Philosoph Michel Clouscard die Kosmologie der neunziger Jahre zusammen, während sein Kollege Cornelius Castoriadis eine «in einer Flut an Bedeutungslosigkeit dahindriftende Gesellschaft» erkannte.

Zwei Jahrzehnte mit populistischen Wirren später lesen sich diese beiden Diagnosen vertraut und fremd zugleich – wie ein Magritte-Gemälde. Die rasche Individualisierung und der Niedergang kollektiver Institutionen, den diese Autor:innen erkannt hatten, sind nicht aufgehalten worden. Trotzdem haben sich einige Koordinaten verschoben. Der für die Neunziger von Tillmans und Ernaux so typische Cocktail aus Zurückhaltung, Euphorie und Apathie passt mit seiner heftigen posthistorischen Schlagseite kaum in unsere Gegenwart.

Joe Biden wurde mit einem Stimmenrekord von 81 Millionen gewählt, sein Gegner erhielt 74 Millionen Stimmen. Das Brexit-Referendum war die grösste demokratische Abstimmung in der Geschichte Grossbritanniens. In den USA waren noch nie so viele Menschen auf die Strasse gegangen wie bei den Protesten gegen die Ermordung von George Floyd – Tausende von Demonstrationen mit einer Beteiligung von bis zu 26 Millionen Amerikaner:innen. Flaggen und Genderbeschreibungen wuchern auf Instagram und Twitter. Eine neue politische Sensibilität zeigt sich auf Fussballfeldern, in populären Netflix-Shows, in der Art und Weise, wie sich Menschen auf den sozialen Medien präsentieren.

Heute ist alles wieder politisch – und mit grosser Geste. Unsere mächtigsten Institutionen werden von grenzenlosen Leidenschaften gelenkt und neu gestaltet: die Kunsthäuser, die politischen Parteien, die überstaatlichen Institutionen. Trotzdem gibt es heute nur sehr wenige Menschen, die in die Art von organisierten Interessenkonflikten involviert sind, die wir einst Politik genannt haben, in einem klassischen 20.-Jahrhundert-Sinn. «Geschichte» und «Politik» finden eindeutig statt – aber können wir überhaupt noch sagen, was «Geschichte» und «Politik» heute bedeuten?

Romane und bildende Künste ermöglichen einen sehr viel weniger abstrakten Einstieg. Und auch die Literatur hatte einen Spürsinn für den früheren Übergang von einer «Massen»- zu einer «Post»-Politik. In seinem Erinnerungsbuch «Rückkehr nach Reims» (2009) beschreibt der französische Autor Didier Eribon sein Aufwachsen in einer kommunistischen Familie im Norden Frankreichs während der Nachkriegszeit bis in die neunziger Jahre. Als schwuler Mann hatte sich Eribon im Arbeiter:innenuniversum seiner Eltern stets fehl am Platz gefühlt. Sie waren Mitglieder einer Partei, die gleichgeschlechtliche Liebe als Ausdruck von «bourgeoiser Abartigkeit» sah, Arbeitsmigration strategisch bekämpfte und das private und öffentliche Leben ihrer Anhänger:innen streng kontrollierte.

Das alles schmälerte Eribons Anerkennung für die soziale Heimat kaum, die Frankreichs Kommunistische Partei für seinen Vater und seine Mutter bot. Im Gegensatz zu einem öffentlichen Raum, der vor allem als Bühne für die individuelle Selbstdarstellung herhalten muss und wo repräsentative Institutionen automatisch verdächtig sind, beschreibt Eribon die «Selbstkonstitution als politisches Subjekt» als «Selbstdelegation an die Wortführer» der Partei: So erhielten «die Arbeiter als konstituierte Gruppe und selbstbewusste ‹Klasse›» eine Existenz.

Doch in den achtziger Jahren wurde diese Welt rissig. Sowohl Eribon als auch Ernaux beschreiben diese Zeit als Dämmerstunde der Massenpolitik. Die Regierung Mitterrand geriet ins Taumeln, die extreme Rechte wurde zum ersten Mal zu einer ernst zu nehmenden Grösse in der französischen Wahlpolitik. Als auch Eribons Vater zur extremen Rechten überlief, hatte das eine andere Qualität als sein alter kommunistischer Lebensstil: «Im Gegensatz zur Stimme für die Kommunisten, die man selbstbewusst, demonstrativ und öffentlich abgab, wurde die Wahlentscheidung für die Rechtsextremen gegenüber dem Urteil von aussen […] abgeschirmt, ja geleugnet.»

Demokratie als Horizont

«Rückkehr nach Reims» beschreibt diesen Kollaps der Massenpolitik und zeichnet einen Weg von der Partei zur Privatisierung nach, der in den achtziger und neunziger Jahren parallel zu einer allmählichen Verfinsterung der sozialen Welten verläuft, die Eribons Eltern bewohnten. Doch bereits in den Neunzigern hatte die politische Theorie ein neues, postpolitisches Zeitalter im Visier, das die entscheidenden Faktoren für die eigene Abwicklung bereits kannte. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch sieht dieses Zeitalter der Postpolitik von einem Paradox geprägt.

Wie er als Einstieg in sein Buch «Postdemokratie» (2004) schreibt, sei «Demokratie» im neuen Jahrtausend zum unüberschreitbaren Horizont für jedes Regime auf dem Planeten geworden. Doch diese zu Recht «optimistische Haltung gegenüber der Demokratie» unterdrücke ein paar verstörende Fakten, erklärt Crouch: Der Aufstieg der Demokratie als Form sei von einer aus dem Ruder laufenden Ungleichheit und kapitalistischem Auftrumpfen begleitet worden. Wie der britische Historiker James Heartfield schreibt, sei diese neue Herangehensweise an die Politik «das moderne Äquivalent zum Verfolgen von Klatsch über das Königshaus und zum Besuch öffentlicher Erhängungen» gewesen: Die Haltung gegenüber der Macht sei «volatil und voyeuristisch».

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck war zugleich Apologet und Anatom der neuen Ordnung. In seinen Augen hat zur Jahrtausendwende ein «zweiter» Individualisierungsprozess die westlichen Gesellschaften erfasst, vergleichbar mit der Renaissance und der Reformation. Daraus resultierten ein «politischer Privatismus» oder eine generelle Unfähigkeit, die nötigen Mehrheiten für eine demokratische Aktion zu finden.

Alle Kritiker:innen der Postpolitik respektierten die Trennung zwischen der Politik als Prozess (politics) und der Politik als Regierungshandeln (policy): Politics meint die Formierung eines kollektiven Willens, der bestimmt, was die Gesellschaft mit ihren Überschüssen anstellt. Policy baut auf der Ausführung dieses Willens. Im stetig weiter aufklaffenden Graben zwischen den beiden liegt die Saat für den Übergang von der Postpolitik in die Hyperpolitik.

Gespenst vom Klassenkampf

Oberflächlich teilen Postpolitik und Hyperpoli­tik, die sie schliesslich ersetzen wird, viele Schlüsselelemente: Demobilisierung und Schwächung der Zivilgesellschaft, Entwurzelung von Parteien, die kontinuierliche Abkapselung des Staates vom Druck von unten. Neues setzt aber immer Kontrast voraus. Warum bleiben wir nicht bei einem vertrauteren Wort?

In den Jahren nach der Finanzkrise von 2008 begann die politische Eiszeit, die nach dem Fall der Berliner Mauer eingesetzt hatte, stetig aufzutauen. Überall im «Westen» entstanden Bewegungen, die einmal mehr das Gespenst von Interessenkonflikten und Klassenkampf wachriefen: von Occupy Wall Street bis zu 15-M in Spanien und den Antiausteritätsprotesten in Grossbritannien. Quer durch diese «populistischen Explosionen» organisierten und verbreiteten sich Alternativen zu den alten Massenparteien: Bewegungen, NGOs und Meinungsgemeinschaften wie Extinction Rebellion oder die Brexit-Partei hatten flexiblere Modelle zu bieten als die alten Massenparteien, die heute von Politikerinnen wie Bürgern als zu träge wahrgenommen werden. Die Parteien verloren Mitglieder, gleichzeitig florierten die Proteste.

Seit 2020 sind Millionen auf die Strasse gegangen, um ihre Regierungen wegen Polizeigewalt, Covidmassnahmen oder Untätigkeit in der Klimakrise anzuklagen. Diese neuen Bewegungen hatten einen riesigen Zulauf, einige haben die öffentliche Meinung in einem kaum je da gewesenen Ausmass verändert. Auf der Ebene der konkreten Regierungspolitik hinterliessen die neuen politischen Proteste aber kaum Spuren.

Mit der Ausnahme von ein paar professionellen Aktivist:innen kehrten die «Black Lives Matter»-Demonstrant:innen bald in ihre alten Jobs zurück: Ihr Aktivismus zeigt sich höchstens noch in den schwarzen Quadraten auf ihren Instagram-Profilen. Beim «March on Washington» von 1963 mit Martin Luther King trugen die Demonstrant:innen Gewerkschaftsknöpfe und Städteplaketten auf ihren Jacken. Zwischen den George-Floyd-Demonstrant:innen gab es dagegen keine bereits bestehenden Verbindungen, Mitgliederlisten oder institutionelle Kader; es existierten höchstens ein paar neblige NGOs als Flugbegleiter. Möglicherweise war das der Grund, warum die per Ende 2020 nach den Protesten eingeführten Budgetkürzungen bei der Polizei kurz darauf wieder rückgängig gemacht wurden. (Vordergründig wurden die Polizist:innen wieder eingestellt, um eine Kriminalitätswelle nach Corona zu bekämpfen.) Das Private und das Öffentliche hatten sich einmal mehr verwandelt, mit einem Ergebnis, das Eribons Eltern nicht wiedererkennen würden.

Ein Virus ohne Eigenschaften

Im Mai 2020 bat der Radiosender France Inter eine Reihe von prominenten Autor:innen, über die Folgen der Coronapandemie nachzudenken. Der Tenor war mehrheitlich, die Pandemie könnte ein Übergang voller Hoffnung sein: Covid markiere einen Wendepunkt für unsere Zivilisation, der die Welt unwiderruflich neu gestalten werde. Aber Michel Houellebecq, der als einer der Ersten um eine Stellungnahme gebeten worden war, widersprach vehement. «Nach diesen Lockdowns werden wir nicht in einer neuen Welt aufwachen», verkündete er, «sie wird dieselbe sein wie zuvor, bloss ein bisschen schlimmer.» Für ihn war Covid «ein banales Virus, unglamourös verknüpft mit einer obskuren, grippeartigen Krankheit, mit undurchschaubaren Überlebensbedingungen, unklaren Eigenschaften: manchmal milde, manchmal tödlich, nicht einmal sexuell übertragbar. Kurz gesagt: ein Virus ohne Eigenschaften.»

Houellebecq war lange klar der emblematischste Romanautor des postpolitischen Zeitalters. Sein Debüt «Ausweitung der Kampfzone» (1994) – auf Englisch wurde dieser Titel mit «Whatever» übersetzt – zeigt den Nihilismus einer Generation, die weder Politik noch Geschichte kennt und bloss die schnellstmögliche Befriedigung sucht. «Elementarteilchen» (1998) porträtiert die hedonistischen postpolitischen neunziger Jahre, angereichert mit den neusten Errungenschaften von Gentechnik und Raumfahrt. «Lanzarote» (2000) greift nochmals die Touristifizierung der Welt aus seinem ersten Roman auf.

Beim Erscheinen von «Plattform» (2001) ist die Party bereits vorbei, und eine unentrinnbare Paranoia fährt ein: Islamistische Terrorist:innen stören das Ferienresort, das sich die verträumten Westler:innen eingerichtet haben, was zur Errichtung eines Überwachungsstaats führt. In «Unterwerfung» (2015) wird die marginale Bedrohung zur frontalen Attacke: Islamist:innen übernehmen den Staat und gründen ein Kalifat an der Seine. Der postpolitische Traum ist endlich vorbei. Doch die Alternative, die Houellebecq an die Wand malt, ist ein regressiver Traditionalismus, der für die Wähler:innen so unattraktiv ist, dass er sich nur mit Erpressung und Zwang durchsetzen lässt. In «Serotonin» (2019) erscheint eine ernst zu nehmende Nachfolge für die Postpolitik: unorganisierte, kurzzeitige Blockaden von Kreuzungen und Autobahnen.

Doch der Schriftsteller verliert langsam den Halt. Die Geschichte in Houellebecqs neustem Roman, «Vernichten» (2022), erscheint erst mal extrem aktuell. Sie spielt im Jahr 2026, und der Protagonist Paul Raison arbeitet als Berater seines Freundes Bruno Juge, Frankreichs Wirtschaftsminister. Dann tauchen online Videos der Enthauptung des Ministers auf, die an IS-Filme erinnern. Sie sind so gut gemacht, dass die Spezialisten des Departements Schwierigkeiten haben, herauszufinden, wer die Clips fabriziert hat. Plötzlich wechselt der Roman die Gangart: Paul verlässt Paris, um seinen Vater zu besuchen, der nach einem Schlaganfall auf der Intensivstation liegt. Dort trifft er auf seine Schwester Cécile, eine Populistin, Neokatholikin und Le-Pen-Anhängerin, die mit einem arbeitslosen Notar verheiratet ist. Dazu gibts Seitenblicke auf Pauls Mutter Suzanne, eine Konservatorin, und auf seinen unglücklich verheirateten Bruder, der als Archivar im Kulturministerium arbeitet. Der Roman endet mit Pauls Abstieg ins Fegefeuer nach einer Krebsdiagnose.

Die entscheidenden Themen von «Vernichten» erinnern die routinierten Houelle­becquianer:innen an das postpolitische Zeitalter, das ihn einst berühmt gemacht hat. Aber etwas wirkt seltsam. Der Roman liest sich, als sei er von einem Getriebenen sehr hastig geschrieben worden, der Tonfall ist untypisch sanft. Was ist passiert? Um es unverblümt zu sagen: Das zentrale Sujet von Houellebecqs originellsten Romanen – die nihilistischen Gesellschaften der neunziger und nuller Jahre mit ihrer korrelierenden Postpolitik und Posthistorie – ist in den 2020er Jahren keine verlässliche Zielscheibe mehr.

Das Problem ist symptomatisch für die neue Atmosphäre nach 2020. Die unerbittlich trostlose Vision des französischen Alltags, wo sich in Houellebecqs besten Romanen die privaten mit den gesellschaftlichen Aspekten der Verzweiflung verbanden, schienen zumindest implizit jede erdenkliche Antiestablishmentbewegung zu rechtfertigen. Und obwohl er die Gilets jaunes nie explizit unterstützt hat, schienen seine Romane deren Kritik weitgehend zu teilen. Doch die Figuren in «Vernichten» erscheinen nicht als resignierte Opfer einer neoliberalen Restrukturierung. Vielmehr treffen wir hier auf Männer und Frauen, die aus der Geschichte herausgefallen sind und nun als Christ:innen vor einem gottlosen Universum ohne Kirche stehen.

Als Romanautor hat Houellebecq zwei der drei potenziellen Nachfolger der Postpolitik zielsicher vorausgesagt: den rechten Pseudotraditionalismus und die populistischen Aufstände, die Politik der Antipolitik. Aber die wohl verbreitetste Nachfolgeform hat er übersehen: Hyperpolitik verspricht die Neuverzauberung des öffentlichen Lebens für diejenigen Subjekte, von denen Houellebecq dachte, dass sie sich aus dem öffentlichen Raum definitiv verabschiedet hätten. In ihrer Verschmelzung von privatisierter Selbstdarstellung und politischem Enthusiasmus findet die Hyperpolitik einen Ausweg für den Wunsch nach einem Ziel und einer Aufgabe, der für das 20. Jahrhundert so bezeichnend war und den die neunziger Jahre vernachlässigt hatten.

Anfang 2022 verkündete Houellebecq, dass «Vernichten» sein letzter Roman gewesen sei. Das endgültige Ende der Postpolitik fällt also zusammen mit dem Abschluss seines Gesamtwerks. Dieser Moment erlaubt einen raren Rückblick auf die Ära, die sich in Houellebecqs Büchern verewigt hat: die Zeit der Postpolitik der achtziger und neunziger Jahre, die wir nun langsam aus dem Blick verlieren. Mit ihrem Verschwinden wurde Tillmans und Houellebecq der Boden unter den Füssen weggezogen. Sie und wir landen in einer Welt, die Nostalgikern wie Futuristinnen die kalte Schulter zeigt.

Aus dem Englischen von Daniela Janser.

Anton Jäger ist Postdocforscher an der Katholischen Universität Leuven. Er publiziert regelmässig zu Populismus, Grundeinkommen und zur Krise der Demokratie. Sein Buch «Hyperpolitik» erscheint im Oktober 2023 im Suhrkamp-Verlag.