Sachbuch: Ein Buch statt ein Besuch
Nicht ganz auf der Höhe von «Rückkehr nach Reims»: Didier Eribons Buch über das Leben und das traurige Sterben seiner Mutter ist gelehrt, aber auch auffallend distanziert.
Die Mutter sagt: «Du hast recht, ich muss vernünftig sein.» Der Sohn zieht zu Hause ein Buch des Philosophen René Descartes aus dem Regal und findet rasch die Stelle, an die ihn dieses Vernünftigseinmüssen erinnert: «Mein dritter Grundsatz war, stets bemüht zu sein, eher mich zu besiegen als das Schicksal, eher meine Wünsche als die Ordnung der Welt zu verändern …» Und der Sohn erinnert sich auch, wie er einst als politisierter Philosophiestudent noch wütend gegen solche Schicksalsergebenheit rebelliert hatte. Wie die Gesellschaft verändern, wenn man nicht wenigstens versucht, die Welt nach den eigenen Wünschen zu formen? Doch als er nun seine alte, kranke Mutter von der Notwendigkeit eines Umzugs ins Pflegeheim überzeugen will (oder muss?), greift er selber zu solchen Sätzen über die erdrückende Unausweichlichkeit der Umstände: «Du musst vernünftig sein, es geht nicht anders.»
Didier Eribon, der Sohn in dieser Szene, hat nach seinem erfolgreichen Vater-, Frankreich- und Klassenbuch «Rückkehr nach Reims» eine weitere biografische Analyse verfasst, diesmal über seine Mutter. Und wie schon der Vorgänger ist «Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben» gespickt mit theoretischen und literarischen Zitaten: etwa aus den Sterbebüchern von Philip Roth, Hélène Cixous und Zeruya Shalev; aus «Das Alter» von Simone de Beauvoir und «Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen» von Norbert Elias.
«Eine Arbeiterin» handelt vom körperlichen und geistigen Zerfall einer Frau ohne nennenswertes ökonomisches oder kulturelles Kapital. Eribon mahnt aber grundsätzlicher an, dass Krankheit und Tod aus Gesellschaft, Politik, aber auch aus der Philosophie weitgehend ausgeklammert seien. Unser Angelpunkt bleibe stets – und meist uneingestanden – ein idealisiertes freies Subjekt im Vollbesitz seiner leiblichen und mentalen Möglichkeiten.
Nicht mehr aus der Nähe
Wie zuvor der Vater wird nun also auch die Mutter zur Keimzelle einer über das Einzelschicksal hinausweisenden Gesellschaftsstudie. Immer wieder verschwindet sie hinter all den Diskurswänden, die Eribon hochzieht. Und sie kann ihn dafür auch nicht mehr zurechtweisen, in ihrer – wie von ihm geschildert – derben, fadengeraden Art. Fakt ist, dass Eribon weder das im Untertitel des Buches genannte Alter, vor allem aber nicht das Sterben seiner Mutter aus der Nähe miterlebt hat – und vielleicht auch deshalb bei so vielen anderen Autor:innen Erfahrungen und Ideen holt, um seinen Text abzustützen. Er denkt von den Büchern her, sieht eher die soziale Abstraktion als das Individuum. Darin unterscheidet sich Eribons Text stark von Annie Ernaux’ persönlicherem und in einem Zug niedergeschriebenem Mutterbuch «Eine Frau», obwohl sie manche Einsichten teilen. Etwa dass sie beide ihren Klassenaufstieg massgeblich den Opfern der hart arbeitenden Mütter zu verdanken haben.
Eribons Buch beginnt mit dem Satz, «am Ende» sei er «nur zweimal in Fismes gewesen»; und zwar an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, als er gemeinsam mit seinen ungeliebten Brüdern die Mutter aus ihrer letzten eigenen Wohnung in ein Pflegeheim begleitete. Knapp zwei Monate später ist sie tot. Ihrer Beisetzung bleibt der selbsternannte «Klassenflüchtling» Eribon fern. Das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter war schwierig, vor allem wegen ihres Rechtsrutschs, wie er sagt, doch die gegenseitige Entfremdung ist existenzieller: Eribon wird von Klassenscham geplagt. In seinem Leben als öffentlicher Intellektueller, Foucault-Biograf und Teil der freundschaftlichen Troika mit seinem Partner Geoffroy de Lagasnerie und dem Schriftsteller Édouard Louis fand diese Mutter, solange sie lebte, kaum Platz.
Dafür spricht, nein lamentiert sie auf seinen Anrufbeantworter. Sie kommt nicht mehr allein aus dem Bett, klagt über schlechte Betreuung, Vernachlässigung, gar Gewalt. Er versucht, ihr aus der Ferne zu helfen, kontaktiert Heim und Ärzt:innen. Doch seine versprochene Rückkehr nach Fismes verschiebt er immer wieder: Ein Italienurlaub, ein Infekt, eine Vorlesungstour durch Deutschland kommen ihm dazwischen. Bis es zu spät ist.
Die Klassenscham der Mutter
Anstelle der ausgebliebenen Besuche gibt es nun, Jahre nach dem Tod der Mutter, ein Buch. Dieses ist nicht frei von Gewissensbissen und Zweifeln. Gleichzeitig gelingt es Eribon gerade durch seine emotionale Distanz, plausibel zu machen, dass Altersarmut, Verlust der Selbstbestimmung und Sterben keine privaten Probleme sind (oder sein sollten), sondern eine gesellschaftliche Verantwortung. Die Passagen über Pflege- und andere Notstände gehören zu den stärkeren des Buches.
Dass er allerdings – wohl aus der Perspektive des eigenen bewegten Lebens in Paris und des bitteren Endes seiner Mutter – zum Schluss kommt, sie habe ihr Leben lang kein Glück gekannt, wirkt angesichts der geschilderten Entfremdung anmassend. Interessanter als ein derart vernichtendes Pauschalurteil über ein Leben wäre die Erkundung der Frage gewesen, wie Klassenscham eben nicht nur die Aufsteiger:innen plagt. Die Ängste und Ressentiments seiner Mutter hätten gerade in diesem Punkt eine genauere Betrachtung verdient.