Roms neue Bürgermeisterin: Die Revolution wird vertagt

Nr. 42 –

Seit drei Monaten regiert Virginia Raggi von der Fünf-Sterne-Bewegung die italienische Hauptstadt. Ihre bisherige Bilanz ist dürftig.

Mehr als drei Monate nach ihrer triumphalen Wahl zur Bürgermeisterin von Rom gibt sich Virginia Raggi, neuer Star der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento Cinque Stelle/M5S), selbstkritisch – und zuversichtlich: «Wir hatten Schwierigkeiten. Aber wir sind daran gewachsen.» Letzteres wird sich erst noch zeigen. Einstweilen muss die 38-jährige Anwältin viel Spott ertragen.

Die KommentatorInnen der europäischen Leitmedien wollen es schon vorher gewusst haben: Eine politische Novizin und ihre im Regieren völlig unerfahrene Partei würden es in der korrupten Metropole schwer haben. Und die mehr als 67 Prozent Zustimmung in der Stichwahl gegen ihren Konkurrenten Roberto Giachetti vom Partito Democratico könnten sich bald als schwere Belastung erweisen. Liegt das am Versagen unfähiger DilettantInnen? Oder ist Rom, die Ewige Stadt, auch ewig unregierbar?

Starke Mächte im Verborgenen

Virginia Raggi und ihre BeraterInnen haben schwere, nicht nur handwerkliche Fehler gemacht. Zum bisherigen Tiefpunkt wurde der 1. September, den die linke Tageszeitung «Il Manifesto» treffend als «schwarzen Donnerstag» bezeichnete. Als die Antikorruptionsbehörde die Einstellung von Raggis Kabinettschefin Carla Romana Raineri für «irregulär» erklärte, meinte die Bürgermeisterin, unverzüglich handeln zu müssen. Um 4.30 Uhr in der Nacht gab sie via Facebook Raineris Entlassung bekannt. Stunden später reichten mehrere Spitzenkräfte ihre Kündigungen ein – darunter der für Finanzen zuständige Stadtrat, der Chef und Vizechef der städtischen Verkehrsbetriebe Atac sowie der Direktor der Abfallgesellschaft Ama.

Einstweilen im Amt blieb Paola Muraro, die als Umweltbeauftragte endlich die Müllbeseitigung organisieren soll. Sie war zwölf Jahre lang als gut bezahlte Beraterin für die Ama tätig und soll auch mit dem mafiösen «König des Mülls», Manlio Cerroni, zusammengearbeitet haben. Gegen sie läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Umweltvergehen und Amtsmissbrauch; Raggi wusste davon, informierte jedoch nur ihre Partei, nicht aber die Öffentlichkeit.

Dass sie Muraro – eine Vertreterin des alten Establishments der Stadt – überhaupt berufen hat, begründet die Bürgermeisterin mit den gravierenden Problemen, die ohne Expertise nicht zu lösen seien. Das ist zweifellos richtig. Es hat wenig mit Verschwörungsdenken zu tun, wenn nicht nur Raggi, sondern auch unabhängige BeobachterInnen auf die «poteri forti» verweisen, die Rom beherrschen: starke Mächte, die im Verborgenen wirken, aber doch spätestens seit Dezember 2014 allgemein bekannt sind. Damals wurden mehr als vierzig LokalpolitikerInnen und UnternehmerInnen festgenommen. Letztere zahlten Schmiergelder, um öffentliche Aufträge zu bekommen, die sie dann schlecht und zu völlig überhöhten Preisen ausführten. «Mafia capitale» (Hauptstadtmafia) wurde zum geflügelten Wort.

Drei Geschäftszweige versprachen maximale Profite: Müllentsorgung, Transportwesen und Strassenbau. In den vergangenen Jahren ist noch die Unterbringung von Geflüchteten als Quelle der Bereicherung hinzugekommen. Damit sei mehr Geld zu verdienen als mit Drogen, prahlte einer der Beschuldigten in einem abgehörten Telefongespräch.

Dass in Rom die öffentliche Verwaltung nicht funktioniert, ist offensichtlich. Der Müll stapelt sich, Busse stehen im Stau, und viele Strassen sind in einem geradezu lebensgefährlichen Zustand. Im Wahlkampf war Raggi werbewirksam mit dem Velo um die Schlaglöcher herumgekurvt und hatte für den Fall ihrer Wahl schnelle Abhilfe versprochen. Bisher ist nichts passiert – die Kommune ist so klamm, dass schon die Bereitstellung von zusätzlichen neun Millionen Euro für «Soziales» von der «sternenfreundlichen» Tageszeitung «Il Fatto Quotidiano» als grosse Sache gefeiert wurde. Dabei ist das nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Eine Milliarde Euro fehlt im aktuellen Haushalt, die Altschulden belaufen sich auf dreizehn Milliarden. Es könnten auch mehr sein – angesichts der unübersichtlichen Buchführung weiss das niemand so genau.

Dagegen hilft nur maximale Transparenz – eines der wesentlichen Wahlversprechen der Fünf Sterne. Davon ist wenig zu sehen. Das selbsternannte Gremium, das die neue Bürgermeisterin lenkt und kontrolliert, ist ein «magischer Zirkel» um Beppe Grillo, Gründer und «Megafon» der Fünf Sterne. Grillo hatte zwar im vergangenen Jahr seinen Rückzug angekündigt, aber seit dem Tod seines Kompagnons, des Strategen und «Chefideologen» Gianroberto Casaleggio, im April ist er präsenter denn je. Erst kürzlich liess er sich den inoffiziellen Titel eines «capo politico» verleihen. Zusammen mit Casaleggios Sohn Davide bildet er das Machtzentrum der Partei. Deren widersprüchliche Struktur wird in Rom besonders deutlich. Formal haben die M5S-Mitglieder über Onlineabstimmungen mehr Mitwirkungsrechte als Mitglieder herkömmlicher Parteien – letztlich aber entscheiden der «charismatische Leader» und seine Entourage.

Argumente für die GegnerInnen

Während sich der innerparteiliche Unmut noch in Grenzen hält, reagieren AktivistInnen der sozialen Bewegungen mit Kritik. In einem offenen Brief an die neue Bürgermeisterin fordert das Netzwerk Decide Roma (Rom entscheidet) als erste Massnahme ein Schuldenaudit – die öffentliche Prüfung der Bücher. Der Brief schliesst mit dem Appell: «Rom zu regieren, ist sicher keine einfache Aufgabe. Wir glauben nicht, dass Sie sich in einem abstrakten Sinn als ‹Bürgermeisterin für alle› begreifen können. Denn wir sind nicht alle gleich. Die Stadt und ihre Gemeingüter sind heute Geisel starker Mächte des Eigentums an Fonds und Immobilien, der Banken und des Finanzwesens, und die Bürger leiden unter den Folgen. Man muss sich entscheiden, auf welcher Seite man stehen will.»

Bislang hat Virginia Raggi selbst auf symbolische Aktionen zugunsten der Schwachen verzichtet. Anlässe gäbe es genug: BewohnerInnen besetzter Häuser, denen die Räumung droht, fordern Unterstützung – Raggi erklärt sich für nicht zuständig. Die Gruppe Baobab Experience, die freiwillig und ohne Bezahlung die Unterbringung Geflüchteter organisiert, wurde nicht einmal zu einem Beratungstreffen zugelassen; hier verwies Raggi auf eine «Gesamtlösung», die Zeit brauche. Derweil hat auch in Rom der Herbst begonnen.

Der Plan der Fünf-Sterne-StrategInnen war es, durch «gute Regierung» in der Hauptstadt den Wahlsieg auf nationaler Ebene vorzubereiten. Der Austausch einiger kommunaler Führungskräfte reicht hierfür offensichtlich nicht aus. Auf die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen aber mag sich die neue Stadtregierung nicht einlassen. Das Ergebnis ist Stillstand, der dem politischen Gegner Argumente liefert. In Umfragen liegt Renzis Partito Democratico derzeit wieder vor M5S. Die von Grillo versprochene «Revolution» muss vertagt werden.