Italien: Wie wärs denn mit ein bisschen Bewegungstherapie?
In der italienischen Linken tut sich etwas. Aber trotz des Teilerfolgs bei den Europawahlen ist es ihr bis anhin nicht gelungen, ihre Zersplitterung zu überwinden.
Nach dem triumphalen Erfolg der Demokratischen Partei (PD) bei den Europawahlen sitzt Italiens Regierung fester im Sattel denn je: Mit 40,8 Prozent der Stimmen ist Matteo Renzis Partito Democratico die stärkste sozialdemokratische Partei Europas geworden. Dahinter liegt die europaskeptische populistische Fünfsternebewegung des Komikers Beppe Grillo. Sie erreichte bei ihrer ersten Europawahl 21,6 Prozent. Exregierungschef Silvio Berlusconi und seine konservative Forza Italia sind nur noch drittstärkste Kraft. Ebenso Verluste hinnehmen musste die rechtspopulistische Lega Nord, doch sie schaffte den Sprung über die Vierprozenthürde.
Auch Parteien links des PD werden ins europäische Parlament einziehen: 4,03 Prozent der italienischen Voten erreichte die Bündnisliste «L’Altra Europa con Tsipras», die nun drei Abgeordnete nach Strassburg entsenden kann. Die linke Parteienallianz stützte den Vorsitzenden des griechischen Parteienbündnisses Syriza, Alexis Tsipras, als Kandidaten für die Europäische Kommission.
Die Tageszeitung «La Repubblica» sprach von einem «kleinen Wunder»: «Die italienische Linke findet wieder zusammen. Rund um die Kandidatur von Alexis Tsipras scheint es wieder möglich, einen Rahmen für all die Mitte-links-Strömungen zu schaffen, die mit den Methoden und der Taktik des PD nicht einverstanden sind – von den Bewegungen bis zu den Intellektuellen.» Entstehen könne dabei etwas Ähnliches wie die deutsche Linkspartei – ein pluralistisches Projekt, in dem «Reformer» und «Radikale» mehr oder weniger solidarisch zusammenarbeiten.
Basisbewegungen im Fokus
So weit ist es noch nicht. Die von Renzi mit Berlusconi ausgehandelte Wahlrechtsreform würde kleine Parteien hart treffen, weil die Sperrklausel von derzeit vier auf acht Prozent angehoben werden soll. Allerdings stehen Neuwahlen bis auf weiteres nicht an. So kann die parlamentarisch orientierte Linke das tun, was sie schon nach dem Wahldebakel von 2008 (3,1 Prozent für die Regenbogenlinke, La Sinistra l’Arcobaleno) als einzig erfolgversprechenden Weg aus der Krise erkannt hat: an die Basis gehen und mit den sozialen Bewegungen in konkrete Konflikte eingreifen.
Breite und Vielfalt der Bewegungen zeigten sich eindrucksvoll am 17. Mai in Rom. 50 000 Menschen demonstrierten gegen die von der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds verordnete Sparpolitik und ihre Umsetzung durch die Renzi-Regierung: Um den Haushalt zu stabilisieren, will sie in grossem Umfang öffentliches Eigentum privatisieren. Gleichzeitig sollen diverse aus Steuermitteln geförderte Grossprojekte die seit Jahren kränkelnde Wirtschaft beleben. Angepriesen wird das mit dem Versprechen, so würden neue Arbeitsplätze entstehen.
Kampf für Richtungswechsel
Daran mögen die AktivistInnen nicht mehr glauben. Sie widersetzen sich dem Ausverkauf öffentlicher Güter («beni comuni») mit dem gewollt doppeldeutigen Slogan «Il movimento fa bene», Bewegung tut gut – vor allem in Form von Widerstand gegen die Zumutungen eines Wirtschaftssystems, das von den Regierenden allein im Sinn der Marktlogik verwaltet wird.
In vielen Regionen Italiens gibt es Basisbewegungen, die für einen politischen Richtungswechsel kämpfen: für den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Kultur beispielsweise, gegen die Privatisierung des öffentlichen Nahverkehrs, gegen die Wohnungsnot, gegen die immer noch steigende Erwerbslosigkeit und gegen Umweltschäden durch rücksichtslosen Raubbau. Dabei sind sie zum Teil durchaus erfolgreich. Das gilt besonders für die Initiative gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, die 2011 mit einem Referendum 95 Prozent Zustimmung gewann. Umgesetzt ist dieses eindeutige Votum bislang allerdings noch nicht. Nun soll ein Gesetz ins Parlament gebracht werden, um das Ergebnis des Referendums verbindlich zu machen.
Unüberhörbar ist auch der Protest gegen die für 2015 in Mailand geplante Weltausstellung Expo – ein gigantisches Projekt, das Unmengen an Geld verschlingt und der Korruption zu neuer Blüte verhilft. Am anderen Ende Italiens, auf Sizilien, wehrt sich die NoMUOS-Bewegung (MUOS steht für Mobile User Objective System) gegen ein Satellitensystem der US-Marine, das auch für den Drohnenkrieg nutzbar ist. In vielen grossen Städten gibt es eine breite Bewegung für das Recht auf Wohnraum. Allein in Rom leben etwa 10 000 Menschen, darunter viele MigrantInnen, in besetzten Häusern. Ihnen rückt die Regierung mit einem Dekret zu Leibe, das die Versorgung ihrer Wohnungen mit Wasser, Gas und Strom untersagt.
Für die NoTAV-Bewegung im piemontesischen Susatal, die gegen den Bau einer Trasse für einen Hochgeschwindigkeitszug (Treno ad alta Velocità, TAV) zwischen Turin und Lyon kämpft, gehört staatliche Repression seit Jahren zum Alltag. 30 000 Demonstrierende machten am 10. Mai in Turin deutlich, dass sie sich nicht spalten lassen wollen. Unter den Augen einer einschüchternd gerüsteten Polizeimacht solidarisierten sie sich mit vier inhaftierten NoTAV-Aktivisten, die des «Terrorismus» beschuldigt werden: Sie sollen einen Kompressor in Brand gesetzt haben. Im Juli wird Turin erneut Schauplatz von Demonstrationen sein. Dann soll dort der EU-Gipfel gegen Jugendarbeitslosigkeit stattfinden. Massenhafter Protest ist garantiert.
Dass dennoch eine Leerstelle besteht zwischen zentralen Grossdemonstrationen und lokalen Aktionen, ist den AktivistInnen durchaus bewusst. So wiederholten sie am 17. Mai in Rom Aufrufe für die «Schaffung eines Netzwerks der Bewegungen, das diese in den jeweiligen Konflikten vor Ort unterstützt». Das ist aber leichter gesagt als getan. Ähnliche Appelle gab es schon öfter, auch von namhaften Intellektuellen. Deren Debatten sind in Italien traditionell wichtig für Linke, um Wege aus der Krise zu suchen. Vor genau zwanzig Jahren erschien Norberto Bobbios Büchlein «Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung». Entgegen dem damaligen Zeitgeist argumentierte der liberalsozialistische Rechtsphilosoph Bobbio (1909–2004), dass die Gegenüberstellung keineswegs sinnlos geworden sei. Als «charakteristisches Element in den Doktrinen und Bewegungen, die sich links nennen», sah er den «Egalitarismus», verstanden als «ein Streben, die Ungleichen etwas gleicher zu machen».
«Eine Praxis, die eine Geschichte hat»
Heute erinnert der Historiker und Soziologe Marco Revelli an Bobbios Bestseller und die damalige Debatte. In seinem kürzlich erschienenen Buch «Post-Sinistra. Cosa resta della politica in un mondo globalizzato» knüpft er an den «Skandal der Ungleichheit» an – Ungleichheit auf globaler, aber auch auf europäischer und nationaler Ebene. Im zweiten Teil des Buchs finden sich mehrere Interviews zu der Frage, was heute als links gelten kann. Einzig der Philosoph Massimo Cacciari hält diese Frage für überholt, während Mario Tronti, einer der Begründer des Operaismus (einer antistaatlichen neomarxistischen Bewegung) und 2013 auf der PD-Liste in den Senat gewählt, nach wie vor den Bezug zur Arbeiterbewegung für zentral hält. Zwei Mitglieder des italienischen Schriftstellerkollektivs «Wu Ming» (bekannt durch den historischen Roman «Q»), die sich selbst als «Prekäre der Kulturindustrie» bezeichnen, antworten auf die Frage, ob «links» eine «Praxis» oder eine «Geschichte» sei: «Eine Praxis, die eine Geschichte hat!» Ob linke Politik sich als Partei oder als Bewegung organisiert, erscheint ihnen zweitrangig. Ihr tiefes Misstrauen richtet sich gegen den weitverbreiteten Kult um den «charismatischen Leader».
M5S hat Zenit überschritten
Dieser «leaderismo» hat erheblich zum Wahlerfolg des PD beigetragen: Matteo Renzi erscheint als der junge, dynamische Macher, der «unideologisch» die Probleme löst. Dabei kam ein anderer starker Mann unter die Räder: Beppe Grillo, der mit immer schrilleren Tönen gegen sämtliche KonkurrentInnen, vor allem Renzi, einen Teil der eigenen Wählerschaft verschreckt hat. Das veränderte Kräfteverhältnis zeigt die Probleme der Linken, aber auch ihre Chancen: Die PD-Wählerschaft ist heute zehnmal grösser, dagegen deutet das Ergebnis der Fünfsternebewegung darauf hin, dass sie ihren Zenit überschritten hat. Da Grillo bisher auch dezidiert linke WählerInnen angesprochen hat, liegt darin ein Potenzial, das sich gewinnen lässt.
Marco Revelli, der für die linke Bündnisliste im Wahlkampf als Sprecher fungierte, wies schon vorher darauf hin, dass die Arbeit nach der Wahl erst richtig losgehen werde. Der Wahlkampf habe ihn zuversichtlich gemacht, weil hier Linke mehrerer Generationen «fast überrascht» festgestellt hätten, wozu sie fähig sind, «wenn sie die jüngste Vergangenheit der Zersplitterung und Abgrenzung» hinter sich lassen.
Innerhalb der massgeblich an der Bündnisliste beteiligten Partei Sinistra Ecologia Libertà (SEL) allerdings stehen die Zeichen nach der Wahl erneut auf Streit. Die Partei war 2009 entstanden aus einem Zusammenschluss der Minderheitsfraktion des Partito della Rifondazione Comunista (PRC), Teilen der Grünen und der Sinistra Democratica, dem linken Flügel der LinksdemokratInnen. Bei den Parlamentswahlen 2013 hatte die SEL im Bündnis mit dem PD 37 Mandate in der Abgeordnetenkammer und 7 im Senat gewonnen. Als der PD dann ein Regierungsbündnis mit Berlusconi schloss, ging die SEL in die Opposition; jetzt fordern einige ihrer ParlamentarierInnen eine Wiederannäherung an Matteo Renzi.
Dagegen sieht die SEL-Mehrheit die Liste als Basis für ein dauerhaftes linkes Bündnisprojekt. Gleiches gilt für den PRC und die allermeisten der 73 KandidatInnen der Liste. Dass es trotz konträrer Ansichten über das Verhältnis zur PD-Regierung in der Liste nicht zum Bruch kommen müsse, findet Luciana Castellina, die inzwischen 84-jährige Mitbegründerin der linken Zeitung «Il Manifesto». Sie erinnert an die «Doppelstrategie» des Partito Comunista Italiano, als Oppositionspartei zugleich die Regierungspolitik zu beeinflussen. Organisatorische Basis für einen linken Neustart sollten ihrer Ansicht nach die lokalen Komitees der Bündnisliste sein – in einem Kommentar vor der Wahl hatte Castellina diese als «Antidepressivum» für die italienische Linke bezeichnet. Sollte dessen Wirkung nachlassen, könnte auch eine Bewegungstherapie helfen.
Die WählerInnenwanderung
Der Triumph der Demokratischen Partei (PD) kam überraschend. Die Medien hatten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Matteo Renzi und Beppe Grillo prognostiziert. Vor diese vermeintliche Alternative gestellt, entschieden sich viele WählerInnen für Renzi, linke ebenso wie AnhängerInnen Silvio Berlusconis. Dazu dürfte auch Renzis Versprechen beigetragen haben, die Steuern auf Jahreseinkommen bis 25 000 Euro um monatlich 80 Euro zu senken.
Die bisherigen WählerInnen des konservativ-liberalen Zentrums um Expremier Mario Monti liefen fast geschlossen zum PD über: Der sogenannte Dritte Pol schrumpfte innerhalb eines Jahres von 10,5 auf 0,7 Prozent. Eine «Linkswende» ist diese Wählerwanderung kaum. Einige KommentatorInnen sehen eher eine Wiedergeburt der Democrazia Cristiana, die Italien zwischen 1945 und 1993 regierte.