Von oben herab: Alternative im Rahmen
Stefan Gärtner über die Kinder unserer Stadträte
Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Franz Josef Degenhardt sein Lied von Väterchen Franz, dem «versoffenen Chronisten», sang: «Seht ihr drüben, Mitbewohner, das Hygieneinstitut, / da, wo heut die weissen Riesen die Gehirne waschen? – Gut, / genau bis dorthin reichte damals unsre Vaterstadt, / und da lebten die im Aussatz, die man nicht ertragen hat: / Der SS-Offizier, der nachts nicht schlief, sondern schrie, / und der Zoodirektor, abgehalftert wegen Sodomie, / der schwule Kommunist mit TBC und ohne Pass / und der abgefallne Priester, der noch schwarze Messen las, / das Hasenschartenkind, das biss, wenn’s bitte sagen sollt’, / und der Schreiner, der partout so wie Jesus leben wollt’.» Vielleicht kein Paradies; aber ein Ort der Freiheit: «Viele Jahre lebten sie dort zwischen Trümmern, Schrott und Müll, / assen Krähen, tranken Wermut, rauchten Pfefferminz mit Dill. / Ihre Haare waren lang und ihre Bärte kraus und dick, / und sie stanken wie die Füchse, jeder hatte seinen Tick: / Der SS-Offizier, der suchte Massengräber und / stach überall mit einer Eisenstange in den Grund. / Der Zoodirektor schuf aus Pappe, Polsterzeug und Draht / ein riesengrosses Tier, das seufzen konnte, wenn man’s trat. / Der Kommunist, der malte rote Sonnen, prophezeite schon / für das nächste Wochenende die Weltrevolution.»
Warum dieser lange Anlauf, wo es doch in dieser Kolumne um Wichtiges gehen soll, z. B. um das linksalternativ besetzte Zürcher Koch-Areal, dessen Besetzer und Besetzerinnen zwar sicher nicht bei der SS waren, aber mit ihren «Partys und Konzerten» («Tages-Anzeiger») auch nicht recht ertragen werden («… hat der Lärm ums Kochareal im laufenden Jahr zu 171 Lärmklagen geführt. Allerdings stammten drei Viertel der Anzeigen von drei Personen», blick.ch)? Weil fünfzig Jahre nur ein Wimpernschlag sind: «Töchter und die Söhne aus den allerbesten Familien / die zogen, zunächst heimlich, später offen nach dorthin, / sangen rohe Lieder, tranken, liebten sich die kreuz und quer, / und sie liessen ihre Haare wachsen, wuschen sich nicht mehr.»
Denn wie sich herausgestellt hat, sind die Kinder des Zürcher Polizeichefs, eines Alternativen, auf dem Areal zugange, und auch wenn ich ihre Frisuren nicht kenne und ihre Körperhygiene sicher prima ist, hat Richard Wolff seine Zuständigkeit für die umkämpfte Angelegenheit aufgegeben, wegen Befangenheit. Sein Stellvertreter Leupi musste nun der feixenden «Weltwoche» gegenüber einräumen, dass seine Kinder ebenfalls «gelegentlich schon im Koch-Areal» gewesen seien; und das freut mich allein schon Degenhardts wegen, der beim père eternel sitzt, auf das Brimborium um des Renegaten Biermann 80. Geburtstag blickt und sich einerseits über die Zürcher Wiederaufführung freut, andererseits freilich weiss, wie das Theater ausgeht: «… im Hirtenbrief erklärte unser Zeitungszar zuletzt / das saubere Empfinden unsrer Stadt als grob verletzt, / sprach dem Senat das Misstraun aus, befahl im barschen Ton / dem fetten Polizeichef eine Säuberungsaktion.» Und dann wurde aufgeräumt; bzw. wird: «Koch-Areal: Es reicht» («Tages-Anzeiger»).
Denn zwar tun «gerade in einer Stadt wie Zürich (…) Leute not, die alternative Lebensentwürfe aufzeigen»; aber, um mit einem anderen Degenhardt-Klassiker zu schliessen, «im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich».
Versteht sich.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.