Wahlmüde in Tunis
Im Ursprungsland des Arabischen Frühlings wachsen die Zweifel an der Demokratie
Die Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Zivilgesellschaft Tunesiens nimmt erkennbar zu. Das bezeugt auch das Referendum vom 25. Juli 2022 über die neue Verfassung von Präsident Kaïs Saïed. Zwar gab es 94,6 Prozent gültige Ja-Stimmen, aber von den 9,2 Millionen Wahlberechtigten blieben 72 Prozent der Abstimmung fern.
Die neue Verfassung sieht eine deutliche Machtverschiebung zugunsten des Präsidenten vor. Der kann unter anderem das Parlament auflösen und eine neue Regierung ohne Zustimmung des Parlaments ernennen. Zudem gibt es kein Verfahren mehr, um den Präsidenten zu kontrollieren oder gar abzusetzen.
Der parteilose Kaïs Saïed wurde im Oktober 2019 nach dem Tod seines Vorgängers Beji Caïd Essebsi in das Präsidentenamt gewählt. Den Ausgang des Referendums vom Juli 2022 sieht er trotz der geringen Wahlbeteiligung als Erfolg. Ein Jahr zuvor hatte er das Parlament suspendiert und damit die Verfassung von 20141 de facto außer Kraft gesetzt. Die Mehrheit der Abgeordneten ist gegen ihn; allerdings steht auch deren demokratische Legitimation auf tönernen Füße, da die Beteiligung an den letzten Parlamentswahlen vom 6. Oktober 2019 lediglich 41 Prozent betragen hatte.
Der ehemalige Professor für Verfassungsrecht will mittels seiner „neuen Konstruktion“ erklärtermaßen „den revolutionären Weg korrigieren“, der von den Parteien „konfisziert“ worden sei. Dagegen wolle er „ein echtes demokratisches System einführen, in dem das Volk tatsächlich der Souverän ist“.2
Doch je länger der konservative Jurist an der Macht ist, desto weniger ist von jener „Demokratie von unten“ zu sehen, mit der er seine Popularität begründet hat. Saïed verfügt über keine Partei, mit der er die Gesellschaft kontrollieren könnte. Da er auch nur begrenzten Einfluss auf Verwaltung, Justiz und die privaten Unternehmerklans hat, die bis 2011 das Regime von Zine El Abidine Ben Ali getragen haben, sucht der Präsident sein Heil in der autokratischen Kontrolle über die staatlichen Institutionen.
Das Ende der tunesischen „Erfolgsgeschichte“ einer demokratischen Transformation, die sich noch lange gegen die konterrevolutionären Entwicklungen in anderen Ländern des Arabischen Frühlings behaupten konnte, hatte sich allerdings schon vor der Ära Saïed abgezeichnet. Angesichts der Wirtschaftsflaute, der tiefen sozialen Krise, der schwachen staatlichen Institutionen und der diskreditierten politischen Parteien hat eine Mehrheit der Tunesierinnen und Tunesier die Illusionen über einen demokratischen Umbruch längst hinter sich gelassen.3
Während des Aufstands gegen die Ben-Ali-Diktatur im Winter 2010/11 war die Erzählung, dass die Demokratie alle Probleme lösen würde, zunächst begeistert aufgenommen worden. Die Hoffnung auf den Dominoeffekt eines „Arabischen Frühlings“ von Marokko bis Syrien führte dazu, dass man sich auch in Tunesien auf die verfassungsrechtliche Dimension des Strebens nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit konzentrierte. Als Ende Februar 2011 viele junge Menschen aus dem ganzen Land ein Sit-in vor dem Regierungssitz in Tunis veranstalteten, reagierten die Politiker mit dem Vorschlag, eine verfassunggebende Versammlung zu wählen.
Die weitere politische Entwicklung stand im Zeichen der Begriffe „demokratischer Übergang“ und „tunesischer Exzeptionalismus“. Der erste ging davon aus, dass man – wie in anderen Weltgegenden vorgemacht – eine Strategie entwickeln könne, um von A nach B zu gelangen, sprich: von der Diktatur zu einer stabilen Demokratie. Die Entwicklung einer solchen Strategie erhoffte man sich von verschiedenen Akteuren (internationale Organisationen, westliche NGOs, Stiftungen und Berater), die in Scharen nach Tunesien kommen würden, um die lokalen Akteure und die nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes entstandenen NGOs zu „coachen“.
Der zweite Begriff besagte, dass Tunesien – anders als die meisten arabischen Länder – sowieso schon „modern“ war, und zwar dank reformfreudiger Juristen und mehr oder weniger aufgeklärter Autokraten. Zum Beweis verwies man auf das Personenstandsgesetz von 1956, das „der tunesischen Frau“ eine relative Emanzipation beschert habe (Verbot von Zwangsehen, Recht auf Scheidung).4
Kurzum: Tunesien sei schon lange für den Import der liberalen Demokratie, des Parteienpluralismus und freier Wahlen reif gewesen. Damit habe man die Basis für einen gerechten und stabilen Sozialvertrag und den Aufbau legitimer Institutionen geschaffen – und zugleich die Bedingungen, die das autoritäre Regime ermöglicht haben, endgültig überwunden.5
Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, irgendeiner Art von „Orientalismus“ oder Determinismus das Wort zu reden, wonach die tunesische Gesellschaft für die Demokratie weder geeignet noch reif sei. Aber es gibt auch keinen Grund für die Annahme, dass es bei komplexen politischen Prozessen eine Abkürzung gibt.
Die „älteren“ Demokratien, die ihr Modell flugs exportieren wollen, vergessen gern, wie viel Gewalt und Volksaufruhr, aber auch verfassungsrechtliche Experimente und charismatische Führer nötig waren, bis halbwegs funktionierende politische Systeme zustande kamen.
Deshalb ist es nur logisch, dass in Tunesien nicht alles nach dem „Transition“-Lehrbuch abgelaufen ist. Zum Beispiel haben es die Abgeordneten während der gesamten ersten Legislaturperiode (2014–2019) nicht geschafft, sich auf die vier von insgesamt zwölf Mitgliedern des Verfassungsgerichts zu einigen, die das Parlament nach der Verfassung von 2014 ernennen durfte. Das sollte bis Ende 2015 geschehen sein, doch alle mühsam hinter den Kulissen ausgehandelten Vereinbarungen fielen bei den Abstimmungen im Plenum durch.
Die Politik in Tunesien wird von zwei großen rivalisierenden Lagern dominiert: dem Lager der Islamisten und einer Allianz aus dem Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD) und ehemaligen Repräsentanten des Ben-Ali-Systems. Aber beide Lager wollten auf keinen Fall die Kontrolle über eine Instanz aufzugeben, die über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze entscheiden sollte.
Von fünf unabhängigen Institutionen, die gemäß der neuen Verfassung installiert werden sollten, konnte sich nur eine konstituieren: die Unabhängige Wahlbehörde (ISIE) – aber auch die konnte nicht für die Einhaltung der Regeln sorgen, die sich auf die Neutralität und die Finanzierung der Medien bezogen. Zum Beispiel wurde die provisorische Behörde für Audiovision jedes Mal daran gehindert, Sanktionen gegen TV-Sender zu verhängen, die keine Sendelizenz hatten. So konnte der schillernden Medienunternehmer Nabil Karoui 2019 seinen Sender Nessma TV ungehindert für seine Präsidentschaftskandidatur werben lassen, während er selbst wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche im Gefängnis saß.6
Konsens zwischen alten Eliten und Islamisten
Auch alle strukturellen Reformen, mit denen die Unabhängigkeit der Justiz hätte gewährleistet werden können (Status der Richter, Generalinspektion, Richtlinien für die Verwaltungsgerichtsbarkeit), wurden blockiert; der Oberste Justizrat (Conseil supérieur de la magistrature) entschied vorwiegend nach parteipolitischen Interessen. Und von den rund 300 Korruptionsfällen, die den Richtern nach Gründung einer Untersuchungskommission 2011 übergeben wurden, wurde fast keiner zur Anklage gebracht.
2014 wurde die Instanz für Wahrheit und Würde (L’Instance Vérité et Dignité, IVD) gegründet. An ihrer Spitze stand die Journalistin Sihem Bensedrine, die 2011 aus dem Exil zurückgekehrt war. Die IVD sollte die Verbrechen aus sechs Jahrzehnten Diktatur aufarbeiten und Reformen vorschlagen. Auch die IVD wurde in ihrer Arbeit immer wieder behindert; der 2019 vorgelegte Abschlussbericht blieb weitgehend unbeachtet. Zwar laufen zahlreiche Gerichtsverfahren wegen Folter und Korruption, aber das bereits seit vier Jahren, ohne dass ein Ende absehbar wäre.7
Das Innenministerium war in der Ära Ben Ali eine tragende Säule des Regimes. Hier hat sich der alte Korpsgeist erhalten, der dank politischer Verbindungen vor strafrechtlicher Verfolgung schützt. Selbst das Gesetz, nach dem Zivilisten vor ein Militärgericht gestellt werden können, bleibt in Kraft, obwohl es nach der Verabschiedung der Verfassung von 2014 abgeschafft werden sollte.
Solche Blockaden basieren großenteils auf dem berühmt-berüchtigten „Konsens“ zwischen den alten Eliten, die zwischen 2012 und 2019 von der Partei Nidaa Tounes vertreten wurden, und den neuen islamistischen Machtaspiranten von der Ennahda-Partei. Dieser Pakt galt als notwendige Voraussetzung für den Erfolg der Transformation, wurde aber nie zur Basis einer neuen Ordnung jenseits der Interessen der beteiligten Parteien. Nur einmal vermochte der „Konsens“ das Land zusammenzuhalten, als im Februar und Juli 2013 die beiden Anführer der Linken Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi von Dschihadisten ermordet wurden. Ansonsten wurden alle Transformationswilligen ausgebremst.
Ende 2021 entschied Präsident Saïed, den „Tag der Revolution und der Jugend“ vom 14. Januar auf den 17. Dezember zu verlegen. Das heißt, von dem Tag, an dem der Diktator 2011 außer Landes floh, auf den Tag der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi8 im Jahr 2010. Seine Begründung lautete: Der 17. Dezember erinnere an die jahrzehntelang vernachlässigte soziale Frage; der 14. Januar dagegen stehe für den Verrat an der Revolution, weil damals bereits das politische Geschacher um die Ben-Ali-Nachfolge begonnen habe.
Nach dem Januar 2011 wurde die Macht zwischen den zentralen Akteuren zwar neu verteilt. Aber davon blieb die alte Wirtschaftsoligarchie unberührt, der es tatsächlich gelang, die neuen Regierungsparteien zu kapern. Wer sich einen neuen Posten verschafft hatte, bemühte sich das Wirtschaftsmodell zu erhalten, indem er auf die Parteien setzte, die als „Modernisierer“ galten, nur weil sie gegen die Islamisten waren. Aber auch die gemäßigt islamistische Ennahda versuchte nicht, das bestehende Modell zu demontieren, weil sie vor allem darauf aus war, sich in das System zu integrieren.
Damit reduzierte sich die ökonomische Frage auf die Ressourcenverteilung und die Zahlungsfähigkeit eines Staats, der immer weniger einnahm. Dagegen hatte die neue repräsentative Demokratie für die sozialen Konflikte keine Lösung zu bieten.
Diese Enttäuschung führte zu der Erkenntnis, dass Parteien nicht die Vielfalt der Gesellschaft abbilden und parlamentarische Mehrheiten nicht unbedingt das Gemeinwohl vertreten. Kein Wunder, dass in Tunesien der resignative Spruch kursiert: „Unter Ben Ali war es besser.“
In der Geschichte der westlichen Demokratien wurde sozialer Fortschritt immer nur durch den Druck von Massenparteien erzielt, die mit den unteren Klassen verbunden waren. Die einzige Partei, die in Tunesien die Kriterien einer solchen Massenpartei erfüllt, ist die Ennahda. Aber die steht auch für eine starke kulturelle Spaltung innerhalb der Eliten und ist für ihre historischen Aufgaben nicht gerüstet. Zudem hat sie zwischen 2011 und 2019 zwei Drittel ihrer Wählerschaft verloren.
Auch die Interessen der Eliten, die aus dem alten Regime hervorgegangen sind, driften auseinander und bringen keine stabile politische Kraft hervor. Die übrigen Parteien sind zu kurzlebig oder lediglich ein Sprungbrett für Präsidentschaftskandidaten. Und die Linke ist praktisch von der Bildfläche verschwunden.
Wenn die Demokratie ein erstrebenswertes Ziel ist, dann nicht so sehr um ihrer Institutionen willen, sondern wegen der Ergebnisse, die sie hervorzubringen verspricht. Im Fall Tunesien ist das die Verringerung der historischen Kluft zwischen Staat und Gesellschaft und die Umgestaltung eines Wirtschaftsmodells, von dem die Mehrheit der Bevölkerung nichts hat.
1 Siehe Serge Halimi, „Tunesiens kleines Glück“, LMd, April 2014.
2 Ausschnitte aus im Fernsehen übertragene Reden, Juni/Juli 2022.
3 Siehe Olfa Lamloum, „Tunesien, was ist aus deiner Revolution geworden?“, LMd, Januar 2021.
4 Siehe Florence Beaugé, „Tunesische Freiheiten“, LMd, Juli 2015.
5 Siehe Michel Camau, „L’exception tunisienne. Variations sur un mythe“, Paris (Khartala) 2018.
6 Karouis Sender wurde zwei Jahre nach den Wahlen am 27. Oktober 2021 von der mittlerweile nicht mehr provisorischen Hohen Behörde für Audiovision (Haica) geschlossen.
7 Siehe „Wahrheit für Tunesien“ LMd, Juli 2017.
8 Siehe Hicham Ben Abdallah El Alaoui und Amin Allal, „Die tunesische Revolution“, LMd, Februar 2011.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Thierry Brésillon ist Journalist.