SP-Präsident Christian Levrat: Der mit den Hufen scharrt
Niemand anderes in Sicht: Nach dem SP-Parteitag Anfang Dezember wird Präsident Christian Levrat eine neue Amtszeit in Angriff nehmen. Kritisieren lässt sich an seiner Person vieles, doch leicht zu ersetzen ist der Politiker nicht.
FDP-Chefin Petra Gössi wirkt etwas deplatziert, wie sie sich gedankenverloren ein paar Flusen vom dunkelblauen Deuxpièces wischt. Während der TV-Aufzeichnung der «Arena» von letzter Woche zum Thema «Kapitalismus oder Klassenkampf» wird ihr irgendwann der Kragen platzen: «Ich weiss gar nicht, warum wir überhaupt hier sind und über dieses unnütze Papier reden.» Noch aber schwätzt die Runde höflich miteinander, während «Arena»-Moderator Jonas Projer mit letzten Anweisungen für die Sendung um seine Gäste herumgockelt.
Christian Levrat ist als Letzter in Leutschenbach eingetroffen – wie ein Rockstar, der auf seinen Auftritt warten lässt. Es ist sein Moment – sein Coup. «Heute freue ich mich», sagt Levrat, nachdem ihn der Fernsehtross im Laufschritt durch die Studiogänge zum Verkabeln eskortiert hat. Jetzt wippt sein massiger Körper im schwarzen Anzug mit blauer Krawatte freudig vor und zurück. «Ah, Sie haben auch mein Parteiprogramm in der Hand», nimmt er Franz Jaeger, den betagten ehemaligen HSG-Professor, hoch, der ins Fernsehstudio angereist ist, um den ZuschauerInnen einmal mehr die Segnungen des Kapitalismus zu erklären.
Cleverer Taktierer
Es liegt an der kollektiven Trump-Verwirrtheit, dass die SP plötzlich so viel Aufmerksamkeit bekommt. An diesen seltsamen Nachbeben, in denen sich die Linke an den Fragen aufreibt, welche Eliten nun schuld seien am Wahlerfolg dieses psychopathischen Showpinsels und ob man nun tatsächlich den Kontakt zu der «abgehängten Arbeiterschaft» verloren habe oder sie getrost «Rassisten» schimpfen dürfe. Christian Levrat sieht in der Wahl Trumps keinen Aufstand. Seine Analyse fällt bei einem Treffen im Bundeshaus, wenige Tage vor der «Arena»-Aufzeichnung, nüchtern aus: Clinton habe ihre Wählerschaft nicht mobilisieren können, die Republikaner hingegen seien geschlossen an die Urnen gegangen.
Levrat ist auch bei diesem Treffen zu spät, er kommt gerade aus einer Fraktionssitzung, vor wenigen Tagen ist er aus den USA zurückgekehrt, wo er in Montana als Wahlbeobachter war, und am Montag nach der «Arena» wird er nach Madagaskar an den Frankofoniegipfel fliegen.
Es sei schon reichlich seltsam, die SP nun mit den Demokraten in den USA zu vergleichen, sagt Levrat, der breitbeinig sitzt und unablässig mit dem Fuss wippt. Ein bisschen erinnert er an einen Stier, der mit den Hufen scharrt, bevor der Kampf losgeht. Eines hat Levrat gelernt: Gibt es in der Politik eine Gelegenheit, die eigene Position zu vertreten, ist er bereit. Die Einladung in die «Arena» ist für Levrat eine solche Gelegenheit. Monatelang hatte sich die Partei bemüht, eine mediale Debatte zum SP-Papier «Wirtschaftsdemokratie» zu lancieren. Doch vor Trumps Wahl hatte sich niemand dafür interessiert: Mit der Forderung nach mehr MitarbeiterInnenbeteiligung lassen sich kaum Schlagzeilen machen. Nach Trumps Wahl brauchte Levrat nur einmal vermeintlich ungeschickt das Wort «Klassenkampf» fallen zu lassen, und schon dominierte das Thema eine Woche lang die Presse.
Das ist die Stärke des 46-Jährigen: Christian Levrat taktiert clever – und während FDP-Präsidentin Petra Gössi und SVP-Präsident Albert Rösti in ihren Funktionen blass bleiben, schafft es der Freiburger, seiner Partei ein klar rotes Profil zu geben. Dass die SP nicht nach rechts rutschte nach dem Wahldebakel 2007, als sie erstmals seit 1991 wieder unter die Zwanzigprozentmarke fiel und neun Nationalratsmandate verlor, ist zu einem grossen Teil sein Verdienst. Denn im Zeitgeist lagen andere: In Deutschland und England hatte sich die Sozialdemokratie mit Gerhard Schröder und Tony Blair auf den «Dritten Weg» in die Mitte gemacht. Die spätere Bundesrätin Simonetta Sommaruga und der Ökonom Rudolf Strahm – der nach Donald Trumps Sieg gegen die böse intellektuelle Elite anschreibt – hatten in ihrem Gurtenmanifest für die SP Schweiz denselben Weg gefordert.
Ein Leben fern der Urbanität
«Für Christian Levrat ist die Verteilungsfrage absolut zentral», sagt Nationalrat Cédric Wermuth über seinen Parteichef. Als geschickter Stratege habe er aber darüber hinaus erkannt, dass sich die SozialdemokratInnen mit der Fokussierung auf einen starken Sozialstaat, auf faire Arbeitsbedingungen und einen funktionierenden Service public am leichtesten einen liessen. «Identitäts- und migrationspolitische Fragen sind in unserer Wählerschaft umstritten. Der Fokus auf die Verteilungsfrage eint uns hingegen. Levrat ist mit seinem Kurs deshalb auf der sicheren Seite.»
So dezidiert links Christian Levrat in der Klassenfrage auftritt, so unfassbar bleibt er bei anderen Themen. Levrat lebt schon sein gesamtes Leben in der kleinen Greyerzer Bauerngemeinde La Tour-de-Trême. In seiner Jugend gründete er die Jungfreisinnigen der Region mit, bis er merkte, dass er doch besser zu den Sozialdemokraten passte. Seine Lebenswelt liegt fern den urbanen, linken Zentren. Das prägt seine Politik: Der SP-Präsident setzt sich für die Freiburger BäuerInnen ein, der Hanflegalisierung stand er lange kritisch gegenüber. Progressive gesellschaftliche Forderungen wie etwa Elternzeit haben nicht oberste Priorität.
Am diffusesten aber bleiben seine Positionen in der Migrationspolitik – selbst für ParteigenossInnen. In Diskussionsrunden geht er das Thema vorzugsweise auf der Ebene der flankierenden Massnahmen an. Niemand blicke wirklich durch, wo er genau stehe, heisst es von verschiedenen ExponentInnen. Einen Anhaltspunkt liefert Levrats Engagement für die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH). Zwei Jahre lang, von 1998 bis 2000, war Levrat Vorsteher des juristischen Diensts der SFH. Unter seiner Mitarbeit veröffentlichte die Institution eine Studie zum «Asylmissbrauch durch Kriminelle oder kriminelle Asylsuchende». Die Arbeit, die vor der Abstimmung über die Asylgesetzrevision 1999 den Ausländerhetzern mit einer eigenen Einschätzung der Lage den Wind aus den Segeln nehmen sollte, erreichte mit ihrer undifferenzierten Darstellung gewaltbereiter Asylbewerber das Gegenteil: nämlich die Legitimation der von rechts angestrebten Verschärfungen. Christian Levrat selbst forderte in der Studie, man müsse bereits zur Verfügung stehende Instrumente konsequenter anwenden, so etwa die Eingrenzung der Aufenthaltsberechtigung auf ein bestimmtes Gebiet – eine Massnahme, die heute sein Parteikollege Mario Fehr in Zürich anwendet.
Levrat, der Machtpolitiker
Christian Levrats Aufstieg verlief rasant. Kurz nach seinem Eintritt in die SP wurde er 2001 Gewerkschaftsmitglied und nach nur zwei Jahren Präsident der Gewerkschaft Kommunikation (die inzwischen in der Syndicom aufgegangen ist). 2003 schickten ihn die Freiburger für den in den Ständerat gewählten Parteikollegen Alain Berset in den Nationalrat. Berset gilt bis heute als engster Verbündeter Levrats. Nur ihm vertraue der Parteichef voll und ganz, heisst es. Mit seinem Amtsantritt 2008 füllte Levrat das Vakuum, das in der Partei nach dem Wahldebakel und der kurzen Amtszeit Hans-Jürg Fehrs herrschte. Und Levrat riss die Geschicke der Partei an sich, von der Detailberatung über die Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative» bis zur Ausarbeitung des «Wirtschaftsdemokratie»-Papiers: Nichts geht in der SP ohne Levrat. Er nutze seine Position, um möglichst viel für die Partei zu erreichen, sagt Levrat beim Treffen im Bundeshaus. Andere werfen ihm Machthunger vor – und einen autoritären Führungsstil. Doch die Partei mag sich zwar an ihrem Präsidenten reiben, seine Kandidatur aber stellt kaum jemand infrage. Levrat schaffe es, dass das durchschnittliche SP-Mitglied zu achtzig Prozent hinter ihm stehe, sagt Juso-Präsidentin Tamara Funiciello. «Das ist eine grosse Leistung, wenn man bedenkt, dass die Positionen bei uns von Jositsch bis zur Juso reichen.» Cédric Wermuth sagt: «Christian Levrat ist ein enorm wichtiger Stabilisator für die Partei, und ich bin froh, dass er dieses Jahr noch einmal antritt.»
Was kommt nach Levrat?
Doch Christian Levrat ist kein Mann der klaren Leitlinien und grossen Diskurse: Er steckt mit seinen Funktionen als Realpolitiker und Präsident in einer Doppelrolle. Diese füllt er gewieft und mit scharfer Intelligenz aus, doch seine Strategie reicht meist nur von Spiel zu Spiel.
Trotz Rechtsrutsch hat es die SP bei den letzten Wahlen geschafft, ihren WählerInnenanteil stabil zu halten – unter Levrat ist die Partei nicht weiter in die Versenkung abgerutscht, in den Kantonen Aargau und Basel-Stadt feierte man zuletzt Wahlerfolge. Doch was kommt nach Levrat? Das scheint in der SP derzeit niemand sagen zu können. Vielmehr schiebt die Partei mit der erneuten Nominierung des charismatischen Gewerkschafters unangenehme Fragen nach hinten: Reichen klassenkämpferische Positionen im Kampf gegen den internationalen Rechtsrutsch? Oder müssten sich die Schweizer SozialdemokratInnen vermehrt identitätspolitischen Fragen widmen (vgl. «Egal was die Linke macht» ), eine neue internationalistische Vision entwickeln? Werden nach Levrats Abwahl die Gräben zwischen linkem und rechtem SP-Flügel noch grösser?
Vorerst wird Levrat bleiben. In der «Arena» bleibt seine erhoffte Sternstunde aus. Schnell entwickelt sich die Diskussion zu einem diffusen Hickhack ohne genauen Fokus. Doch Levrat hat es zu Beginn der Sendung zumindest probiert: «Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, es freut mich, dass Sie sich Zeit nehmen für eine Diskussion über unser Parteiprogramm.»
SP-Wirtschaftsdemokratie : Klassisch sozialdemokratische Forderungen
Das neue Wirtschaftsprogramm, über das die SP an ihrem Parteitag vom 3. und 4. Dezember befinden wird, sei ultralinks, ja revolutionär, kommentieren die Medien im Vorfeld. Liest man das Positionspapier, stehen jedoch die Forderungen viel mehr für sozialdemokratische Kernanliegen.
Schon seit ihrer Gründung hat die SP die Überwindung des Kapitalismus in ihrem Parteiprogramm. Trotz Widerstand des sozialliberalen Flügels entschied man sich auch am Parteitag 2010, weiterhin an diesem Grundsatz festzuhalten. Im kürzlich veröffentlichten Positionspapier «Wirtschaftsdemokratie» versucht die Partei nun, Massnahmen zur Umsetzung dieses Ziels zu skizzieren.
So wird beispielsweise gefordert, dass Angestellte mehr Mitbestimmung in ihren Unternehmen erhalten. Ziel sei es, «dass ab einer bestimmten Unternehmensgrösse eine Mitarbeitendenvertretung mit Mitbestimmungsrechten in den Leitungsgremien der Unternehmen obligatorisch ist». Revolutionär? In Ländern wie Frankreich oder Deutschland ist dies bereits seit mehreren Jahrzehnten gesetzlich verankert.
Weiter wird vorgeschlagen, dass Konsum- und Wohnbaugenossenschaften gefördert, der Service public ausgebaut und Privatisierungen bestehender öffentlicher Betriebe verhindert werden sollen. Pensionskassengelder sollen nur noch «in demokratisch, ökologisch und solidarisch wirtschaftende Unternehmen oder Fonds investiert werden».
Der Vorwurf, das Positionspapier sei sozialistisch und sollte eingestampft werden, wie sich einige sozialliberale ParteiexponentInnen zitieren liessen, mag teilweise auf den marxistisch geprägten Jargon zurückzuführen sein. So sprechen die AutorInnen beispielsweise von einem «wachsenden Überdruss an entfremdeten Arbeitsverhältnissen in Unternehmen». Angesichts der realpolitischen Forderungen wird jedoch schnell klar, dass es im Papier um Reformen und nicht um Revolution geht. Ziel der Partei ist es, der seit Jahrzehnten zunehmenden Liberalisierung einen starken Staat entgegenzusetzen. Dass dies heutzutage bereits als linksradikal betrachtet wird, zeigt auch, wie stark sich der politische Diskurs nach rechts entwickelt hat.
Olivier Würgler