Wu Ming: Europa ist eine brodelnde Hölle
Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming beschäftigt sich in seinem neuen Roman «Altai» mit der Welt im 16. Jahrhundert und schreibt – einmal mehr – die Geschichte neu.
Giuseppe Nasi ist ein reicher Mann. In Istanbul, in seinem weitläufigen Anwesen, beherbergt er Flüchtlinge aus der abendländischen Welt und organisiert Hilfe für diejenigen, die es nicht bis in die sichere Türkei, den Sinai oder in den Jemen geschafft haben. Mit grossen Geldbeträgen unterstützt er die Machthaber am Bosporus, damit sie für ihn in den Krieg ziehen, um das Land seiner Träume aus den Fängen italienischer Kolonialmächte zu befreien. Das Land, das für ihn und die schutzlosen Flüchtlinge zur Heimat werden soll. Frieden würde herrschen, Gleichheit und Gerechtigkeit.
Die Ideale der Aufklärung täuschen über die Zeitepoche hinweg, in der «Altai» spielt: Der Roman ist im 16. Jahrhundert angesiedelt. In Europa wütet die Inquisition, der Klerus versetzt die Menschen in Angst und Schrecken, Häretiker und Andersgläubige werden inhaftiert, gefoltert, verbrannt oder bei lebendigem Leib gehäutet, es herrschen Denunziantentum und Willkür. Europa ist eine brodelnde Hölle, und angerührt wird diese unappetitliche Suppe von fanatischen Theologen, die ihrerseits um Macht und Leben fürchten: Wer tötet, der überlebt.
Aus Verliererperspektive
Die Urheber dieses historisch unkorrekten und, gelinde gesagt, etwas anarchischen Epos tragen den geheimnisvollen chinesischen Namen Wu Ming. Und wer weiter sucht, stösst auf Luther Blissett – den Namen eines britischen Fussballspielers jamaikanischer Abstammung, der nach einer erfolglosen Saison in der italienischen Liga ins Vereinte Königreich zurückverkauft wurde. So weit, so gut: Globalisierte Welten sind schon immer komplex und verwirrend gewesen; wir sollten uns endlich daran gewöhnen.
In den neunziger Jahren war der Name Luther Blissett für linke, norditalienische AktivistInnen ein Kollektivpseudonym, unter dessen Signatur eine politische Spassguerilla ihre subversiven Streiche und Spiele trieb. Nachdem das Kollektiv im Jahr 2000 öffentlich Selbstmord begangen hat, beginnen fünf überlebende Autoren unter dem Namen Wu Ming, was auf Mandarin «fünf Namen» oder «ohne Namen» heisst, mit der Produktion historischer Romane. Ihr bekanntestes Werk, «54», erzählt von der allgegenwärtigen Gewalt während des Kalten Kriegs, die historische Parabel «Razza Partigiana» stellt den somalisch-italienischen Partisanen Carlo Abbamagal ins Zentrum, und «Q» thematisiert die Kämpfe der deutschen Wiedertäufer im 16. Jahrhundert. Daran schliesst der Roman «Altai» direkt an. Das Thema der Inquisition scheint das Kollektiv immer wieder zu beschäftigen, was in Zeiten von Kultur- und Religionskriegen und wiederbelebten nationalen Identitäten nicht weiter erstaunt.
Der Krieg wird zum Desaster
Wu Ming erzählen aus der Perspektive der VerliererInnen. Und sie sind von der Notwendigkeit neuer Gründungsmythen überzeugt. So halten sie es mit Frantz Fanon, einem der bedeutendsten Theoretiker der antikolonialen Befreiungsbewegungen, der bereits im zarten Alter von zehn Jahren begriffen hatte, «… dass man mir einen verfälschten Lauf der Geschichte erzählt hat». Die historischen Korrekturen von Wu Ming erschliessen sich jedoch nicht so einfach, da die Romane von Anspielungen und Referenzen überquellen und man deswegen gerade mal dort die utopische Subversion erkennt, wo man selber ein wenig Wissen besitzt. Aber das tut dem grossen Spass keinen Abbruch, der die Lektüre dieser geistreichen Abenteuerromane bereitet. Und man begibt sich wie eine Detektivin auf die Suche nach den wechselnden Handschriften und verschlingt, was die fünf Autoren zusammenfabulieren, die sich konventioneller Autorschaft verweigern und Kunstproduktion als gemeinschaftlichen, solidarischen Akt verstehen.
Im Roman «Altai» erledigt ausgerechnet Manuel Cardoso, Angehöriger einer verfolgten Minderheit, für die Republik Venedig das Drecksgeschäft der Überwachung und der Folter. Cardosos langjährige Geliebte Marianna jedoch, die um die wahre Beschaffenheit seines Penis weiss, verrät ihn an die inquisitorischen Mächte, und er fürchtet, als entlarvter Jude an dieselben Folterräder gefesselt zu werden, die er früher für die Feinde der katholischen Kirche bereithielt. Also flüchtet er die Balkanroute hinunter, in die aus unserer Sicht verkehrte Richtung, und wird zum engsten Vertrauten des sagenhaft reichen Giuseppe Nasi in Istanbul, der einen Traum, eine politische Utopie hat: ein befreites Zypern für ein sicheres Zion.
Doch der Krieg wird zum Desaster. Der Eroberungsfeldzug verkommt zum Massaker. Die durchgeknallten türkischen Generäle sind tot. Die fanatischen Europäer beherrschen den Mittelmeerraum. Das vernichtete Zypern leckt seine Wunden. Der schwule türkische Sultan versucht, die Reparationszahlungen auf seinen jüdischen Geliebten Giuseppe Nasi abzuwälzen. Und die Verfolgten sind immer noch auf der Flucht. Was passiert jedoch mit Manuel Cardoso? Dem Opportunisten, der seine Seele ganz im Sinn Hannah Arendts dem Banalen des Bösen verschrieben hat? Seine erstaunliche Verwandlung sei nicht verraten. Nur so viel: Die wahre Utopie, die sich nach der Lektüre von «Altai» mit Sicherheit zeigt, wäre denn: Nie wieder Krieg.
Wu Ming: Altai. Verlag Assoziation A. Berlin 2016. 352 Seiten. 36 Franken