Neue Schweizer Filme: Ich bastle mir meine Kinoschweiz zusammen
Selbstversuch in Solothurn: Unser deutscher Gastkritiker wurde auf seinem Streifzug durchs hiesige Filmschaffen gleich mal auf dem falschen Fuss erwischt.
Eine «Schweizer Safari» verspricht das Ehepaar Gähwiler dem Sudanesen Ngundu. Dieser war ein paar Tage vorher bei Gartenarbeiten auf dem Grundstück der beiden verunglückt. Weil er über keine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügt, wird er zum Problem insbesondere für Herrn Gähwiler, der demnächst in den Gemeinderat gewählt werden möchte. Also geht es in Martin Guggisbergs «Usgrächnet Gähwilers» auf Safari, ins Bündnerland.
Es ist natürlich völlig unangemessen, ein Filmfestival mit einer Safari zu vergleichen. Und doch habe ich den Versuch unternommen, an den diesjährigen Solothurner Filmtagen die Schweiz wie ein fremdes Land zu betrachten. Oder zumindest das Schweizer Kino. Denn obwohl ich nur wenige Kilometer jenseits der Grenze aufgewachsen bin und seit kurzem in Zürich wohne, habe ich in den letzten Jahren kaum mehr als eine Handvoll aktuelle Schweizer Filme gesehen.
Das hat nichts mit Desinteresse zu tun. Das Schweizer Kino läuft einem im Ausland einfach selten über den Weg, vielleicht auch, weil es ihm bislang nicht gelungen ist, eine «Marke» aufzubauen, wie das manche andere «kleine» Filmländer durchaus erfolgreich tun. Wenn man vom österreichischen oder vom rumänischen Kino spricht, hat man sofort bestimmte Bilder vor Augen, das ist beim Schweizer Film anders. Für meinen Selbstversuch in Solothurn ist das erst einmal nichts Schlechtes, im Gegenteil: Ich konnte mir unvoreingenommen zwei Tage lang meine eigene Kinoschweiz zusammenbasteln.
Mit Ravioli in den Bergen
«Usgrächnet Gähwilers» (ab 26. Januar 2017 im Kino) hat mich zum Beispiel gleich auf dem falschen Fuss erwischt: Aufgrund von Titel und Plakat hatte ich eine jener wohlmeinenden Culture-Clash-Komödien erwartet, die die Arthouse-Kinos schon seit Jahren europaweit in Geiselhaft genommen haben. Ein paar Szenen in diese Richtung (oh, wie scharf die kochen, diese Afrikaner!) gibt es bei Guggisberg schon, aber insgesamt hat er anderes im Sinn. Das machen schon die ersten Bilder deutlich: Zunächst sieht man Aufnahmen einer Flüchtlingsrettung im Mittelmeer, dann offenbart ein Zoom, dass es sich um eine Nachrichtensendung handelt, die in einem blitzblank geputzten Wohnzimmer über den Bildschirm flimmert.
So setzt der Film die Flüchtlingskrise mit einem Rums in das Schweizer Heartland hinein. Der Grundton ist im Folgenden nicht versöhnlich, sondern konfrontativ. Das betrifft auch die Safariszene: Die Bündner Murmeltier-heile-Welt-Schweiz ist nur ein Ablenkungsmanöver, die Gähwilers setzen ihren unerwünschten Gast einfach mit ein paar Paletten Ravioli in den Bergen aus. Im Weiteren entwickelt sich «Usgrächnet Gähwilers» zu einer erstaunlich bösartigen Satire über eine Kleinstadthölle, in der die NachbarInnen einander per Feldstecher unter Kontrolle halten.
Unbehagen im Mainstream
Der hysterische Tonfall dieser schwarzen Komödie ist auf die Dauer etwas ermüdend, ausserdem droht Guggisberg im Eifer der Vorgartengefechte die Frage aus den Augen zu verlieren, was genau das alles mit Menschen wie Ngundu zu tun haben könnte, die von aussen in diese enge Welt kommen. Dennoch ist das ein Film, der von einem Unbehagen im Mainstream erzählt. Auf ihre Art tut das auch eine andere Komödie, die allerdings deutlich saturierter und geschmeidiger daherkommt: «Der Frosch» ist das Regiedebüt von Jann Preuss, der freilich, worauf vorab beruhigend hingewiesen wird, «schon einmal für Til Schweiger geschrieben» hat. In seinem eigenen Film geht es um den Schriftsteller Jonas, der in einer Lebenskrise neue Hoffnung schöpft, als er die junge, chaotische Biologiestudentin Gina kennenlernt, in der er ein literarisches Talent vermutet.
Eine Wohlfühlkomödie über Depression, die es sich oft zu einfach macht; Gina insbesondere ist keine eigenständige Figur, sondern bis hin zu ihrem schulterfreien Schlabberoberteil eine blosse Drehbuchidee, die passgenau ausgestanzt wird, um ein wenig Farbe in Jonas’ tristen Alltag zwischen Volkshochschulkursen im kreativen Schreiben und Streitereien mit der Exfrau zu bringen. Dennoch fasziniert die Selbstverständlichkeit und Konsequenz, mit der Preuss psychisches Leiden als gesellschaftlichen Normalzustand beschreibt. Die Handlung wird fast ausschliesslich über Therapiesitzungen und abgesetzte oder überdosierte Medikamente vorangetrieben.
Lädierte Mitte, prekäre Ränder
Wenn «Der Frosch» ein Film über die inwendig lädierte Mitte der Schweiz ist, dann berichten zwei Dokumentarfilme von Rändern, wo die Beschädigungen sehr viel nachhaltiger auf den Alltag übergreifen: «Rue de Blamage» von Aldo Gugolz porträtiert einige AnwohnerInnen der Baslerstrasse in Luzern, die alle auf die eine oder andere Art von sozialen Verwerfungen betroffen sind; «Impasse» von Elise Shubs zeigt Bilder vom Strassenstrich in Lausanne und entwirft davon ausgehend die Biografien einiger Frauen, die dort arbeiten müssen.
«Rue de Blamage» hat offensichtlich einen Nerv getroffen, bei der Premiere gab es minutenlangen Applaus. Tatsächlich gelingen dem Film immer dann, wenn er sich auf kleine Beobachtungen am Strassenrand konzentriert, tolle Einsichten: ein älterer Herr, der seinen Plastikstuhl gegen eine feindselige Umwelt verteidigt, ein Strassenmusikant, der auf Rollerblades die Nachbarschaft unsicher macht. Leider lässt der Film solche Momente nicht für sich stehen. Alle ProtagonistInnen erhalten ihre eigenen Geschichten mit genau definierten Handlungsbögen: hier die vor politischer Verfolgung geflüchtete Syrerin, die sich um ihre in der Heimat verbliebene Tochter sorgt; da die Bordellbetreiberin, die von ihrer Beziehung zu einem Putzsklaven erzählt; der Strassenmusiker wiederum verliert seine Wohnung und rutscht in die Obdachlosigkeit ab. Alles berührende Schicksale, aber aufbereitet in einer Art, die sich von TV-Vorabendserien kaum unterscheidet. Am Ende stellt sich eine Art Trost ein: Das Leben ist hart, aber wenn selbst diese Leute das schaffen, stehen wir alle das irgendwie durch.
Exponiert, aber unsichtbar
«Impasse» dagegen – der beste Film, den ich in Solothurn gesehen habe – verweigert sich nicht nur solchem Trost, sondern manchmal sogar den Regeln filmischer Repräsentation. Tatsächlich zeigt der Film nicht einmal die Gesichter der Frauen, die auf der Tonspur von ihren fast durchweg verheerenden Erfahrungen berichten – vor allem natürlich, um ihre Anonymität zu wahren. Es geht in «Impasse» aber auch um die perverse Verteilung von Sichtbarkeit, die Prostitution mit sich bringt. Auf dem Strassenstrich müssen sich die Frauen selbst bei bitterer Kälte leicht bekleidet exponieren, während die Freier in ihren Autos verborgen bleiben. In ihrer Freizeit dagegen müssen die Frauen alles unternehmen, um ihren Beruf zu verheimlichen. «Wenn ich aus dem Haus gehe, möchte ich unsichtbar sein, nichts weiter», meint eine von ihnen.
All das ist natürlich nicht spezifisch für die Schweiz. Prostitution der Art, wie der Film sie zeigt, dürfte es überall geben, wo ökonomische Ungleichheit und eine sexistische Alltagskultur aufeinandertreffen. Dennoch war «Impasse» für mich der einzige Film in Solothurn, bei dem etwas vor meinen Augen enthüllt wurde, was ich an diesem Land bislang nicht wahrgenommen hatte. Besonders in den Passagen, in denen Shubs – in langen, distanzierten Einstellungen – die Orte der Prostitution filmt: diese tristen Industriegebiete an den Stadträndern, die in der Schweiz nicht wirklich heruntergekommen und räudig sind, eher steril vor sich hin funktionieren.
Lukas Foerster schreibt als Filmkritiker für «Perlentaucher» und die Filmzeitschrift «Cargo».