Anna Maros: Die alte Tante der Sexarbeiterinnen

Nr. 6 –

Anna Maros kam einst der Liebe wegen aus Ungarn in die Schweiz. Heute nehmen viele junge Ungarinnen denselben Weg – aus ganz anderen Gründen. Über deren Schicksal hat Maros ein Filmdrehbuch geschrieben.

Im «Wiener Walzer» entwickelte sie die Idee für den Spielfilm «Viktoria»: Anna Maros auf der Zürcher Langstrasse.

Als Drehbuchschreiberin arbeitet Anna Maros vor allem im Hintergrund. Letzte Woche aber stand sie für einmal im Rampenlicht. An den Solothurner Filmtagen lief der Spielfilm «Viktoria». Maros hat gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Regisseur Men Lareida, das Drehbuch geschrieben.

Der Film beschreibt den Weg einer jungen ungarischen Romni, die nach Zürich kommt, um auf dem Strassenstrich Geld zu verdienen. Bei den ZuschauerInnen im Solothurner Landhaus kam der aktuelle und politische Spielfilm gut an: Als Anna Maros mit dem Filmteam die Bühne betrat, erhielten sie viel Beifall. «Viktoria» hat der gebürtigen Ungarin aber nicht nur Applaus, sondern auch einen neuen, aussergewöhnlichen Job verschafft.  

Alles begann im «Wiener Walzer», dem PendlerInnenzug von Budapest nach Zürich. «Ab 2009 veränderten sich die Fahrgäste», erzählt Maros. «In den Sechserabteilen sassen immer mehr junge Frauen, viele davon Romni aus dem Nordosten Ungarns. Ihr Ziel war der Zürcher Strassenstrich, wo sie weitaus mehr Geld verdienen konnten als in der Heimat, wo die Armut und die Arbeitslosigkeit riesig sind.» Davor seien vor allem Rentner und Touristinnen im «Walzer» gereist. Oder Leute, die ihre Verwandten besuchten. 

Maros suchte immer wieder das Gespräch mit den jungen Frauen, und offenbar war deren Redebedürfnis gross. «Sie haben mich als uralte Frau wahrgenommen. Ich war eine Art alte Tante für sie», sagt die 42-Jährige und lacht. «Ausserdem war der Zug ein guter Ort für Gespräche. Wir waren als reisende Frauen weder in Ungarn noch in der Schweiz, sondern an einem Zwischenort.» So sei die Idee zum Spielfilm entstanden.

«Ziemlich dumm»

Vier Jahre dauerten die Arbeiten an «Viktoria». Anna Maros hat Men Lareida auch während der Dreharbeiten unterstützt. Als Dolmetscherin war sie immer auf dem Set – viele SchauspielerInnen stammen aus Ungarn, und ein Grossteil der Szenen wurde in Budapest gedreht. Als Übersetzerin war sie bald einmal nicht nur auf dem Filmset gefragt: Durch ihre Filmrecherchen kam Maros in Kontakt mit den Zürcher Behörden. So legte sie Ende 2011 eine Prüfung als Behörden- und Gerichtsdolmetscherin ab und steht seither auf Abruf zur Verfügung. 

Über die Debatte, die momentan zum Thema Prostitution geführt wird, regt sie sich auf: «Wenn Alice Schwarzer ein Verbot und die Bestrafung der Freier fordert, dann finde ich das aufgrund meiner Erfahrungen ziemlich dumm», sagt Maros. Sie habe in Ungarn eine fünfzigjährige Frau kennengelernt, die nach dreissig Jahren Erwerbstätigkeit arbeitslos geworden war. Die Rechnungen für Miete, Gas und Elektrizität hätten sich in kurzer Zeit so dramatisch gehäuft, dass nur zwei Auswege blieben: Obdachlosigkeit oder Prostitution. Sie habe sich für die Prostitution entschieden. Im Gegensatz zu Deutschland gebe es in Ungarn für solche Fälle kein soziales Auffangnetz. «Ich bin gespannt, was Alice Schwarzer dieser Frau vorschlagen würde.» Maros wünscht sich eine differenzierte, unaufgeregte Debatte über dieses komplexe Thema.

 

Rebellion gegen die Eltern

Auch Anna Maros kam 1992 als junge Frau mit zwei Koffern in die Schweiz. Sie hatte sich in den Schweizer Filmstudenten Men Lareida verliebt und wollte hier Zeit mit ihm verbringen. Sie blieb bis heute. «Als ich den Schweizer Pass beantragte, kam die Polizei bei uns vorbei. Sie sind einfach reingekommen, haben die Schuhe und die Zahnbürsten kontrolliert. Auch die Nachbarn haben sie befragt. Es war wie im Film ‹Die Schweizermacher›. Ich war eingeschüchtert. Heute würde ich sie nicht mehr reinlassen.» Nach der Hochzeit konnte sie in Bern studieren: Theaterwissenschaften, Philosophie und Germanistik.

In ihrer Heimat hatte sich Maros gegen ein Studium gesträubt. Ihre Eltern waren ArchitektInnen, Intellektuelle und überzeugte AntikommunistInnen. «Meine Jugendfreunde waren Arbeiterkids und Punks – heute würde man Prolos sagen. Das war meine Welt. Also habe ich nach dem Gymnasium eine Lehre als Goldschmiedin in der staatlichen Münzprägefabrik begonnen. Als Rebellion gegen meine Eltern.» Von den politischen Umwälzungen Ende der achtziger Jahre habe sie hingegen kaum etwas mitbekommen. «Das ging im Nebel meines damaligen Umfelds unter. Viele meiner Freunde waren drogensüchtig; die getrockneten Mohnköpfe gab es auf dem Blumenmarkt. Das war keine einfache Zeit», sagt Maros. Sie hätten damals grundsätzlich «auf die Politik geschissen», «no future» sei ihr Motto gewesen. Das habe sich aber längst geändert. 

Die Zukunft von «Viktoria» ist noch ungewiss. Bisher fehlt in der Schweiz ein Verleiher. Maros’ grösster Wunsch wäre aber, dass der Film in Wanderkinos im Nordosten Ungarns auch jenen Frauen gezeigt werden kann, die sich sonst keinen Kinoeintritt leisten können.