Kost und Logis: Im Durchmesserlabyrinth
Karin Hoffsten empfiehlt auswärtigen SBB-Gästen einen Ariadnefaden
Eigentlich vermittelt der Begriff «Durchmesserlinie» doch den Eindruck schneidender Klarheit. Drum erhoffte ich mir vom Ausbau derselben unter dem Zürcher Hauptbahnhof übersichtliche Verhältnisse. Doch als ich erstmals nach der Eröffnung, aus Bern kommend und von einem Wolkenbruch überrascht, schnell einen Schirm kaufen wollte, brauchte ich in den marmornen Weiten des Untergrunds eine halbe Stunde, bis ich erst ein Schirmgeschäft und dann den Zugang zur Bahnhofstrasse fand. Der Regen hatte inzwischen aufgehört.
Auch A., ein ehemaliger Lehrerkollege, der über viele Jahre mit dem Zug zwischen Bern und Zürich pendelte und sich nach wie vor geistiger und körperlicher Gesundheit erfreut, gestand mir verlegen lächelnd, er habe sich im neuen Zürcher Bahnhof verlaufen und den Ausgang nicht gefunden.
Und so erging es nicht nur A. Obwohl man bei den SBB der Meinung war, man habe alle Wege mit Versuchspersonen und Videokameras erfolgreich ausgetestet, berichteten im letzten Sommer diverse Medien, die Zugführer würden immer wieder von Fahrgästen auf dem Bahnsteig gefragt: Wie komm ich hier raus? Man versprach Besserung.
Doch wenn man von Bern in Zürich ankommt, sieht man auf dem endlos langen Bahnsteig immer noch nichts: Keine Schilder mit Hinweisen auf spezifische Ausgänge, auch nicht an den Rolltreppen. Ist man eine Weile gelaufen, zeigt ein Pfeil in Richtung «City». Aber rund um den Bahnhof ist doch überall «City».
Nachdem ich diverse Male über Rolltreppen in leere Geschosse rauf- und ergebnislos wieder runtergefahren war, beschloss ich, die Sache systematisch anzugehen. Ich nahm mir Zeit, um mich mit Wegen vertraut zu machen, merkte mir, wann ich beim Ausstieg stur in Fahrtrichtung gehen muss, um auf den «richtigen» Lift zu treffen, und prägte mir wiederum ein, wo der genau oben ankommt, damit ich beim nächsten Mal – vermutlich in Eile – auch von oben wieder richtig unten landen würde. Bei mir klappt das jetzt; doch offenbar erwarten die SBB auch von Durchreisenden solche Rekognoszierungsmärsche.
Bei meiner Erkundung vor einem halben Jahr stiess ich übrigens auf verwirrende Zeichen, und weil ich den SBB nicht Unrecht tun will, ging ich vor einigen Tagen noch mal nachschauen, ob sich inzwischen etwas daran geändert hat.
Hat es nicht: Bei einem Ausgang in Richtung Europaallee weisen mehrere Schilder mit Pfeilen auf die Gleise 21 und 22 hin. Folgt man der Richtung dieser Pfeile, enden die Hinweise plötzlich. Treppe und Lift hinter dem letzten Schild führen zu ganz anderen Zielen, die man, oben angekommen, allerdings auch nur zufällig findet. Unten aber steht man vor einer nackten Wand.
Möglicherweise erreicht man die Gleise 21 und 22 von diesem Ort aus ja nur so, wie Harry Potter aufs Gleis 9¾ gelangte, nämlich mit einem beherzten Schritt durch die Wand. Das habe ich aber vorsichtshalber nicht getestet.
Dank diverser Erfahrungen im europäischen Ausland ist Karin Hoffsten immer noch sicher, dass die Schweizerischen Bundesbahnen trotz Zürcher Labyrinth weitherum Spitze sind.