Lafarge-Holcim (2): Aufruhr in Griechenland: SOS aus Volos

Nr. 44 –

Die Luft im griechischen Volos ist gesundheitsschädigend. BewohnerInnen machen dafür den Lafarge-Holcim-Konzern verantwortlich, der am Stadtrand seinen Ofen mit Abfall befeuert.

Ifigenia Iliopoulou, Universitätsdozentin und Stelios Limnios, Rentner.

Rund 1500 DemonstrantInnen treffen sich am Freitagmorgen, dem 23. Oktober, auf dem Platz der Freiheit mitten in Volos. Es sind mehrheitlich die MittelschülerInnen der Stadt. Viele von ihnen streiken wegen der schlechten Luft schon die ganze Woche. Jetzt treten sie zu einem Marsch durch Volos an. Zuvorderst laufen drei TrommlerInnen, dahinter hält eine Gruppe Jugendlicher ein Transparent, auf dem steht: «Nein zur Verbrennung von Abfall. Ja zum Leben». Die Stimmung ist ausgelassen, sie singen und schreien fortwährend Parolen. Immer wieder auch: «Nein zu Lafarge-Holcim.»

Der Schweizer Zementkonzern hat ein gröberes Reputationsproblem. Rund um den Globus gibt es immer wieder Proteste gegen seine Fabriken, sei es, weil Beschäftigte wie etwa in Indien am Arbeitsplatz grossen Gefahren ausgesetzt sind (siehe WOZ Nr. 20/2018 ) oder eben, weil die Abgase seiner Zementwerke für gesundheitliche Probleme der AnwohnerInnen verantwortlich gemacht werden. Nicht von ungefähr wird der Konzern auch in der aktuellen Debatte um die Konzernverantwortungsinitiative von den InitiantInnen oft als Negativbeispiel ins Spiel gebracht, so mit einem Video über die unhaltbaren Zustände im nigerianischen Dorf Ewekoro. Verwaltungsratspräsident Beat Hess hält demgegenüber die Initiative für eine «gigantische Absurdität, die unseren Wirtschaftsstandort enorm schwächen» und Schweizer Gerichte «bis ans Limit» belasten werde, wie er dem «Blick» sagte.

Zementproduktion ist keine saubere Angelegenheit. Sie gehört zu den grössten Emittenten des Treibhausgases CO2. Der Produktionsprozess erfordert Öfen, die bei einer Hitze von 1450 Grad Gesteine, Sand und Ton zu einem Granulat verschmelzen. Als Brennstoff für diese energiereiche Produktion wählt Lafarge-Holcim meist das Billigste: Kohle und Ölpellets. Immer öfter setzt das Management in seinen Fabriken in aller Welt aber auf einen Stoff, für dessen Verbrennung es mitunter sogar Geld gibt: Abfall. Damit erhöht der Konzern seine Umweltrisiken. Denn seine Öfen und Filteranlagen sind anders als jene der klassischen Kehrichtverbrennungsanlagen nicht dafür konzipiert worden.

Ein Arzt schlägt Alarm

Der Kardiologe Matthaios Dramitinos betreibt in Volos eine Praxis. Zwischenzeitlich war er mehrere Jahre Direktor des Spitals der 150 000-EinwohnerInnen-Stadt zwischen Athen und Thessaloniki. Er zeigt auf seinem Computerbildschirm eine Karte der Hafenstadt am Golf von Pagasai, um das Problem zu erklären: «Der Wind kommt von Norden und Süden in unsere Stadt. Im Norden steht ein Stahlwerk und im Südosten Lafarge-Holcim.» Die in die Stadt geblasenen Abgase könnten nur schlecht abziehen. Hinter der Stadt erstreckt sich das Piliongebirge, am Hafen wurden nach einem verheerenden Erdbeben in den sechziger Jahren sechs- bis achtstöckige Gebäude erstellt, die die Luftzirkulation gegen das Meer hin erschweren.

Dramitinos stellte im Kontakt mit seinen PatientInnen fest, dass in Volos bestimmte Krankheiten sehr viel öfter auftreten als üblich. Als früherer Präsident der ÄrztInnengesellschaft der Stadt sammelte er deshalb mit seinen KollegInnen Geld, damit Studien zum Thema gemacht werden können. Sein Eindruck wurde von der hier ansässigen Universität Thessalien bestätigt: Es gibt in Volos mehr Atemwegserkrankungen, mehr Hirnschläge, mehr bestimmte Krebsarten als sonst in Griechenland. Ein Grund dafür könnte Staub mit einem Durchmesser von weniger als 2,5 Mikrometern sein. Dieser PM 2,5 genannte Feinstaub wird von der Universität seit einiger Zeit an verschiedenen Orten der Stadt gemessen. ForscherInnen konnten inzwischen auch nachweisen: Je höher die PM-2,5-Konzentration in der Luft von Volos ist, desto mehr Spitaleintritte gibt es. «Man kann es in der Stadt riechen. Das Verbrennen des Abfalls führt zu mehr gesundheitsgefährdenden Stoffen in der Luft», so Dramitinos.

Und dann gibt es noch die Frage, wie viel Dioxine, Furane und Schwermetalle Lafarge-Holcim ausstösst. «Die Messungen von Lafarge-Holcim selber sind für mich nicht glaubwürdig», sagt Dramitinos. Das sehen offensichtlich auch viele BewohnerInnen der Stadt so: So marschierten 2018 an einer grossen Demonstration gegen die Abfallverbrennung zwischen 8000 und 10 000 Menschen durch die Stadt. 2019 protestierten erneut Tausende, wobei es vor dem Werk zu schweren Krawallen kam. Spezialkräfte der Polizei verschossen Tränengas und knüppelten auf die Protestierenden ein. Ein 26-jähriger Jugendlicher starb einen Monat später offenbar als Folge der Polizeigewalt.

CEO: «Zirkuläre Ökonomie»

Die Proteste stossen beim Lafarge-Holcim-Werk in Volos auf Unverständnis. Der Journalist aus der Schweiz wird vom Management mit einer Viererdelegation empfangen. CEO Michalis Vlachos erklärt mit einer Powerpoint-Präsentation das Geschäftsmodell der Fabrik und die «nachhaltige Lösung» beim Verbrennen von Abfall. «In Griechenland landen immer noch achtzig Prozent des Abfalls auf Müllhalden. Es geht darum, ihn stattdessen zu recyceln und den Rest, der sich nicht mehr wiederverwerten lässt, mitzuverarbeiten.» Die Firma sieht sich mit ihrem «alternativen Brennstoff», wie sich Vlachos ausdrückt, als Teil einer «zirkulären Ökonomie».

Bei der Verbrennung im Ofen des Werks werde der Abfall komplett zerstört, und es entstünden auch keine Dioxine und Furane, sagt Vlachos. Ausserdem messe ein unabhängiges Institut die Abgase und publiziere die Ergebnisse für alle zugänglich online. Tatsächlich liegt der Schadstoffausstoss des Werks gemäss dieser Website immer unter den Grenzwerten. Für den Feinstaub macht Vlachos hauptsächlich andere Industrien im Norden der Stadt verantwortlich. Doch wie erklärt sich Vlachos den Protest in der Stadt? Nach einer kurzen Bedenkzeit sagt er: «Neue Technologien brauchen eben ihre Zeit, um von den Menschen verstanden zu werden.»

Derzeit deckt das Zementwerk in Volos rund 28 Prozent seines Energiebedarfs mit Abfall. Neben griechischem Müll wird Abfall, der von organischen und recycelbaren Bestandteilen befreit wurde und unter der Bezeichnung Refuse Derived Fuel (RDF) gehandelt wird, aus Italien importiert. Beim Gang über das weitläufige Firmengelände, das durch staubige, turmhohe Stahlkonstruktionen geprägt ist, zeigt Vlachos auf dicke Röhren, durch die der Abfall mit einem Gebläse in den Ofen katapultiert wird. An dieser Stelle stinkt es so stark, dass man um die Covid-Maske froh ist. Kaum Geruch verströmt dagegen das gelagerte RDF aus Italien, das auf einer überdeckten Fläche – so gross wie ein Fussballfeld – gestapelt ist. Portioniert und mit weisser Plastikfolie zusammengehalten, erinnert es an abgepackte Heuballen. Es dürfte sich primär um Abfallschnipsel aus Haushalts- und Gewerbemüll handeln: Plastik, Papier, Textilien. Anders als gewöhnlicher Abfall kann RDF innerhalb der EU problemlos ein- und ausgeführt werden.

Lafarge-Holcim beantwortet die Frage, was das Werk für die Entgegennahme des Mülls erhalte, nur vage: «Das hängt von den Marktbedingungen ab», sagt die zuständige Managerin Lena Belsi. Je nach Situation müsse man für RDF auch zahlen. Für Lafarge-Holcim lohnt sich die Verbrennung von Abfall, weil damit die Kosten für den konventionellen Brennstoff gesenkt werden können. CEO Vlachos betont, dass der Abfall sowohl von den italienischen wie den griechischen Behörden überprüft werde. Alles laufe streng nach Vorschrift und gemäss internationalen Übereinkünften.

Allerdings: So reguliert ist der Handel mit Abfall in Europa nicht, wie es Lafarge-Holcim darstellt. Eine aktuelle Studie von Interpol kommt zum Schluss, dass gerade in Italien das Abfallgeschäft nach wie vor in den Händen von kriminellen Organisationen ist. So würden auch mit Giftstoffen belastete Abfälle illegal recycelt und etwa nach Bulgarien exportiert, wo sie in der Zementindustrie verbrannt würden. Laut dem Journalistennetzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project werden in Italien Haushaltsabfälle mit anderen nicht deklarierten Abfällen vermischt und exportiert. Solcher illegale Abfall sei 2013 nach Rumänien verschifft worden, um ihn in einem Zementwerk von Lafarge-Holcim zu verbrennen. Die rumänischen Behörden hätten das Vorhaben gestoppt. Lafarge-Holcim weist diese Anschuldigungen zurück. Die betreffende Lieferung habe auch in diesem Fall im Einklang mit den europäischen Bestimmungen gestanden.

Opposition vor Gericht

An der Demonstration der SchülerInnen von Volos nehmen auch einige Dutzend Erwachsene teil. Einer von ihnen ist Stelios Limnios, der hinter einem Transparent des BürgerInnenkomitees steht. Der ehemalige Berufsschullehrer und heutige Rentner ist zwei Tage vor der Demonstration vor dem Gericht in Volos auf Betreiben von Lafarge-Holcim zu drei Monaten Haft verurteilt worden. Er habe Hausfriedensbruch begangen, urteilte die Richterin. «Es war ein Sonntagabend», erzählt der 65-Jährige. «Wir standen vor dem Zementwerk, weil wir gehört hatten, dass ein neues Schiff mit Abfall angekommen war. Wir hatten den Verdacht, der Inhalt sei toxisch.» Limnios hängte ein Banner mit dem Slogan «Volos SOS» an ein Förderband der Firma. Als es Arbeiter herunterrissen, übertrat er die Grenze zum Gelände und wollte es zurückholen. «Dann haben sie mich übel zugerichtet», sagt Limnios. Ein Teil der Ereignisse ist auf einem Video festgehalten, das er auf seinem Handy zeigt. Er musste sich in Spitalbehandlung begeben, verzichtete aber auf eine Anzeige gegen die Arbeiter. Lafarge-Holcim jedoch klagte. Auch andere AktivistInnen sind mit Klagen des Schweizer Multis konfrontiert. Ihnen wird Verleumdung vorgeworfen.

Die AktivistInnen des Bürgerkomitees sehen im Zementwerk von Volos eine tickende Zeitbombe. Sie trauen den Messungen des Werks nicht. So stimme es zwar, dass bei 1450 Grad keine Dioxine entstünden, doch beim Abkühlungsprozess eben schon. Kürzlich deckte die Zeitschrift «Saldo» auf, dass 2018 bei einer Messung im viel moderneren Werk von Lafarge-Holcim im bündnerischen Untervaz vierzig Prozent mehr Dioxine ausgestossen wurden, als erlaubt sind. Dioxine bauen sich im menschlichen Körper nicht ab, sondern akkumulieren sich.

Um mehr Beweise gegen Lafarge-Holcim in den Händen zu haben, greifen die AktivistInnen des Bürgerkomitees aus Volos immer wieder zu unkonventionellen Methoden. So wurde auch schon mal ein Lastwagen blockiert, der Abfall ins Werk brachte. «Wir riefen die Polizei und sagten, sie sollen eine Probe der Ladung nehmen», erzählt Ifigenia Iliopoulou, die an der Demo mit Limnios das Transparent hält. «Nach über einer Stunde kamen sie und nahmen auch tatsächlich die Probe.» Die Analyse habe ergeben, dass der Abfall viel mehr Plastik enthalten habe, als deklariert worden sei. Zudem sei bei der Analyse der Probe auch ein hoher Quecksilbergehalt gemessen worden, sagt Iliopoulou. «Gemäss den gesetzlichen Normen kann eine kleine Probe nicht die gesamte Ladung qualifizieren, ein komplexer Test ist erforderlich», erwidert Lafarge-Holcim-Manager Vlachos den Plastikvorwurf. Und auch beim Quecksilber zweifelt er das Resultat an: «Probe und Analyse dieses Materials bedürfen einer wissenschaftlichen Methode, die nach europäischen Standards durchgeführt wird.»

Ifigenia Iliopoulou sagt, sie hätten Lafarge-Holcim auch schon eingeklagt – wegen seines Transportsystems, das nicht dem Gesetz entspreche. Die Klage wurde jedoch abgewiesen. Auf die Hilfe des Staates hofft sie nicht: «Wir sind nicht frei und können nicht auf eigenen Füssen stehen. Wir hängen von der EU ab.» So würde die Regierung nach dem Wunsch Brüssels den Konzernen den roten Teppich ausrollen.

Die 52-jährige Universitätsdozentin für Umweltbildung ist mit ihrer desillusionierten Haltung dem Staat gegenüber nicht allein. Mit wem man bei der Bürgerbewegung auch spricht: Das Vertrauen in die Behörden fehlt, oder es wird diesen gar unterstellt, korrupt zu sein. Die Information, wonach in der Schweiz nächstens über eine Initiative abgestimmt wird, die die Schweizer Konzerne zur Sorgfalt verpflichtet und eine Klagemöglichkeit für Betroffene im Ausland schafft, stösst bei den AktivistInnen denn auch auf grosses Interesse. Man solle sie unbedingt über den Ausgang der Abstimmung informieren.

* Korrigendum vom 3. Oktober 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion ist fälschlicherweise von Hochöfen die Rede. Im Zusammenhang mit Zementproduktion ist dieser Begriff jedoch falsch. Es handelt sich hierbei um eine andere Form von Spezialöfen. Wir bitten für dieses Versehen um Entschuldigung.

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