Marlon James: Das «Shitstem» aus den Angeln heben
Ausgehend vom Mordanschlag auf Bob Marley beschreibt Marlon James die jamaikanische Gesellschaft. Sein Roman «Eine kurze Geschichte von sieben Morden» liegt nun kongenial übersetzt vor.
Der Titel täuscht. Kurz ist die Geschichte nicht. 853 Seiten und etwa alle sieben Seiten ein Mord. Oder sieben. Der wichtigste bleibt unvollendet und ist nicht fiktiv: Am 3. Dezember 1976 wird Bob Marley in seinem Haus in Kingston von Bewaffneten überfallen, er kommt mit ein paar Schusswunden davon. Der Überfall ist Dreh- und Angelpunkt von Marlon James’ Roman «Eine kurze Geschichte von sieben Morden».
Marley wird nicht beim Namen genannt, er bleibt «der Sänger». Um den Anschlag ranken sich wilde Verschwörungstheorien. Die plausibelste: «Smile Jamaica» zu verhindern. Unter diesem Titel fand am 5. Dezember 1976 – zwei Tage nach dem Überfall – in Kingston ein sogenanntes Friedenskonzert statt, als Fanal gegen die explodierende politische Gewalt. Headliner: Bob Marley. Initiiert wurde das Konzert von der regierenden People’s National Party (PNP), die mit ihrem sozialdemokratischen Kurs und Kontakten zu sozialistischen Staaten im Kalten Krieg den Argwohn der CIA auf sich gezogen hatte. Der US-Geheimdienst unterstützte dagegen die oppositionelle, rechtsliberale Jamaica Labour Party (JLP). Beide, CIA und JLP, hatten also ein handfestes Interesse, das Friedenskonzert zu verhindern, ebenso die Mafiabosse von Copenhagen City.
Copenhagen City heisst im echten Kingston Tivoli Gardens und ist das von der JLP kontrollierte Ghetto. Die PNP regiert in Eight Lanes, in Wirklichkeit Matthews Lane. 1976 ist Jamaika tief gespalten, die beiden Parteien teilen das Land unter sich auf, auch den Drogenhandel, der von den rivalisierenden Gangs aus den Ghettos organisiert wird. Dort ist Bandenkrieg Alltag, ein Ausserhalb existiert nicht.
Gang-Slang und Rasta-Talk
«Der Sänger» hebt ab in Richtung Weltkarriere – Rockifizierung des Reggaesounds für den weissen Markt inklusive. In seinem Haus verkehren Politiker, Gangster, Groupies, JournalistInnen, Prostituierte, Musikindustrieleute, Abstauber. Angeblich ist ihm die PNP sympathischer, offiziell bleibt «der Sänger» neutral, aber ein Frieden würde das System aus den Angeln heben oder – im Rasta-Lingo – das «Shitstem» mit seinen «Politricks». Also lautet der Auftrag für die Mafiosi von Copenhagen City: «Vernichte jede Bewegung im Namen Jahs, und die Amerikaner müssen keine Angst mehr haben, dass wir uns in Kuba verwandeln.»
Jah steht für den befreiungstheologisch-antiimperialistischen Kampf gegen das «Shitstem» Babylon. Jahs Jünger sind auch innerhalb Jamaikas geächtet – von der weissen Upperclass wie vom säkular-liberalen Mittelstand. Und nicht alle Rastas bleiben beim Ganja. Kokain überschwemmt die Insel, das Leben wird härter und schneller. Das ist die Ausgangslage für James’ komplexen Roman, für den er 2015 den Man Booker Prize bekommen hat. Er jongliert mit den popinduzierten Bildern, die von Jamaika kursieren, und mixt 400 Jahre Weltgeschichte hinein, von den Sklavenschiffen bis zur Nation of Islam, von Reggaemultiplikatoren zu Reggaeausbeutern, ohne Stevie Wonder, Boy George oder Mick Jagger eindeutig einer der Kategorien zuzuordnen. Jagger geistert als Weissbrot, Gips- oder Kalkleiste durch Kingstons Safe Spaces für Hochprivilegierte und jagt «schwarze Pum Pum» («Pussy», hätte Trump gesagt). Die Stones machen in Reggaetourismus und covern den Klassiker «Cherry Oh Baby».
So wie es kein Ausserhalb von Gang Wars gibt, so gibt es kein Ausserhalb von Color: Hautfarbe und Haare, Race und Gender markieren Herkunft und Status und werden auf drastische Art benannt und beschrieben, wie hier von einem der Obergangster: «Diese Hinterbacken wird sie nicht mehr loswerden, die sind auch ihrer Mutter immer geblieben. Wenigstens ist sie hell wie ihre Mutter. Keine Zukunft für dunkle Mädchen in Jamaika, trotz all diesem Black-Power-Bullshit.»
«Syrer» sind laut Glossar «Jamaikaner nahöstlicher Herkunft», wer aus Indien kommt, ist ein «Coolie», der verhasste Schwule ist ein «Batty Boy»: Sinnvollerweise behalten Guntrud Argo, Robert Brack, Michael Kellner, Stephan Kleiner und Kristian Lutze, die die fast unlösbare Aufgabe übernommen haben, dieses Dickicht aus Dialekt, Soziolekt, Patois, Gang-Slang und Rasta-Talk ins Deutsche zu übertragen, viele Originalausdrücke bei. «Manchmal glaub ich, ein halber Coolie zu sein, ist schlimmer als eine Schwuchtel. Diese braune Haut, ein Mädchen hat mich mal angeschaut und gesagt, wie schade, dass Gott mir so schönes Haar geschenkt hat und mich dann mit dieser Haut gestraft hat. Die Schlampe hat gesagt, meine dunkle Haut erinnert sie daran, dass meine Vorfahren Sklaven waren. Und ich hab geantwortet, ich hab auch ’ne schlechte Nachricht für dich. Denn deine helle Haut erinnert mich daran, dass deine Urgrossmutter vergewaltigt worden ist.»
Es bleibt kompliziert
Marlon James, 1970 als Polizistensohn in Kingston geboren und selbst schwul, erinnert im Gespräch an das jamaikanische Erbe: «Wir bilden uns ein, dass die Sklaverei vor 2000 Jahren abgeschafft wurde. Dabei sind nicht mal 200 vergangen. Wir tun so, als hätten wir das alles überwunden.» Auch ohne weisse RassistInnen gibt es Rassismus unter Schwarzen, so James, das Wort dafür ist «shadism». «Klar ist hellere Haut begehrter als dunklere, deswegen ist das Skin Bleaching so verbreitet. Aber die Bleiche macht deine Haut nicht heller, sie macht sie pinker. In Jamaika braucht man keine Weissen, um weisse Vorherrschaft zu praktizieren. Hautbleichen ist White Supremacy. Songs, die hellhäutige Frauen preisen, das ist White Supremacy. Wir verwechseln oft White Supremacy mit White Supremacists. Als ob es einen rasenden weissen Rassisten bräuchte, um Rassismus zu leben, nein.»
Auch die krasse Homophobie in Jamaika hat ihren Ursprung in der Sklaverei. Nach der gängigen These wurden männliche Sklaven gezwungen, möglichst viele Kinder mit möglichst vielen Frauen zu zeugen. So kompensierten die Sklaven ihre gekränkte und erniedrigte Männlichkeit durch die Produktion von Nachwuchs. Sklaven, die in diesem Zeugungswettlauf versagten, galten als unmännlich, als Batty Boys, Abschaum. Marlon James widerspricht: «Wenn Homophobie eine Folge der Sklaverei ist, woher kommt die Homophobie in Uganda, im Irak? Die Homophobie des ‹Islamischen Staats›? Die Sklavenhalter haben uns nicht die Männlichkeit genommen, sie haben uns die Familie genommen. Die massive Homophobie ist das Produkt einer Religion, die zerstörerisch wirkt.»
Marlon James lebt heute in Minneapolis, er habe seine Heimat «wegen der dort herrschenden Ressentiments und teils gewaltsamer Übergriffe gegen Homosexuelle verlassen», schreibt sein Verlag. James selbst formuliert das anders: «Ich habe nie gesagt, dass ich als schwuler Mann in Jamaika verfolgt wurde, dieses Narrativ wurde mir angehängt. Ich bin nie einer Anti-Gay-Gestapo in die Arme gelaufen, die mich killen wollte. Es ist schwer, mich als Gay Man in Jamaika diskriminiert zu fühlen, denn in Jamaika war ich nicht gay. Ich hatte keinen Freund, ich habe nicht mit Männern geschlafen. Ich wurde nicht diskriminiert, sondern ich hatte Angst davor, dass ich diskriminiert werden könnte.»
Der feine Unterschied: James möchte dem weissen Europäer, der ihn da befragt, auf keinen Fall den Triumph der moralischen und zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber dem zurückgebliebenen Jamaika gönnen. 200 Jahre nach der Sklaverei bleibts kompliziert. Das ist die Nachricht für alle Jamaikanophilen, die glauben, das Land verstanden zu haben.
Marlon James: Eine kurze Geschichte von sieben Morden. Roman. Heyne Hardcore. München 2017. 864 Seiten. 40 Franken