Nachrichtendienst: Der Laie, der den besten Geheimdienst der Welt versprach
Die Spionageaffäre um den Agenten Daniel M. zieht immer weitere Kreise. Leise bleibt es bislang um den Nachrichtendienst-Chef Markus Seiler. Dabei bedarf es dringend einer Aufklärung.
Markus Seiler ist wohl der Inbegriff eines karrierebewussten Schweizer Beamten. Ehrgeizig hat sich der heute 49-jährige FDPler nach oben gearbeitet. Seine Karriere in Bundesbern begann der Politologe als Sprecher der FDP, danach war er persönlicher Mitarbeiter des damaligen FDP-Bundesrats Kaspar Villiger. 2001 machte ihn Bundesrat Samuel Schmid zum Vizegeneralsekretär des Verteidigungsdepartements (VBS), 2004 zum Generalsekretär.
Dann nahm das Leben des regelmässigen Kirchgängers eine ungewöhnliche Wendung: Bundesrat Ueli Maurer ernannte ihn 2009 zum Chef des Nachrichtendiensts – ausgerechnet zu einer Zeit, in der mit der Zusammenlegung der beiden zivilen Nachrichtendienste Dienst für Analyse und Prävention (DAP) und Schweizer Nachrichtendienst (SND) weitreichende Veränderungen im Schweizer Geheimdienstwesen bevorstanden.
Strafversetzung nach oben?
Gut sieben Jahre später ist nun die Bombe um den in Deutschland aufgeflogenen Spion Daniel M. geplatzt. Über die genauen Umstände wird in den Medien täglich spekuliert: Hat Daniel M. tatsächlich von Beginn weg im Auftrag des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) gehandelt? Oder bot er sich dem NDB selbst an? Was wusste der Bundesrat über die Mission und ab wann? Handelte der NDB eigenmächtig?
Fakt ist: Die Affäre ist nicht nur eine politische Peinlichkeit. Sie spiegelt auch den verharmlosenden Umgang wider, den die Schweiz mit ihrem Geheimdienst pflegt. Und sie wirft die grundsätzliche Frage auf, wie der Geheimdienst, den die StimmbürgerInnen 2016 mit weitreichenden Überwachungskompetenzen ausgestattet haben, geführt und kontrolliert wird. Denn dass Seiler zum Chef des Geheimdiensts befördert wurde, war wohl in Wirklichkeit weniger eine Auszeichnung als eine Strafversetzung. Maurer, der das VBS 2009 von Samuel Schmid übernahm, hatte offenbar das Heu nicht nur politisch auf einer anderen Bühne als FDP-Mann Seiler. Ein Insider sagt: «Ueli Mauer hat sich mir gegenüber deutlich ausgedrückt: Seiler sei nicht sein Typ, er komme mit dem Generalsekretär persönlich nicht gut klar. Das hatte wohl mit Seilers intriganten Art zu tun. Er hat sich auf dem Weg nach oben nicht davor gescheut, andere anzuschwärzen, wenn ihm das persönliche Vorteile verschaffte. Seiler hat einige Leichen an seinem Wegrand liegen.»
Als Maurer Seiler 2009 zum NDB-Chef ernannt habe, seien viele völlig vor den Kopf gestossen gewesen, sagt der ehemalige VBS-Mitarbeiter: «Bundesrat Maurer hat wohl einfach die Gelegenheit wahrgenommen, seinen ungeliebten Generalsekretär loszuwerden. Fachliche Kompetenzen spielten bei diesem Entscheid keine Rolle. Das halte ich für fatal: Man hätte Seiler besser entlassen, als ihn mit so einer sensiblen Aufgabe zu betrauen.»
Die Pannen beginnen
In der Konzeptionierung des zusammengelegten Nachrichtendiensts spielte Seiler dann eine tragende Rolle: Er war ab 2008 Projektleiter der geplanten Fusionierung. Später war Seiler massgeblich am Entwurf des neuen Nachrichtendienstgesetzes beteiligt – das demnächst auch den Einsatz von Staatstrojanern oder das Verwanzen von Privatwohnungen legalisieren wird.
Seiler trat sein Amt vollmundig an: Er wolle den besten Geheimdienst der Welt aufbauen, sagte er der «Neuen Luzerner Zeitung». Erste Pannen, etwa der Diebstahl von umfassenden Geheimdaten durch einen NDB-Mitarbeiter, überstand er schadlos. KritikerInnen meldeten sich nur aus dem links-grünen Lager. Der grüne Exnationalrat Ueli Leuenberger sagt: «Ich hatte wenig Vertrauen in Markus Seiler. Unter seiner Führung war ich nicht bereit, den Wunschkatalog des neuen Nachrichtendienstgesetzes zu erfüllen und ihm mehr Kompetenzen zu geben.» Zumal Seiler nicht nur unerfahren gewesen sei, sondern «gleichzeitig ideologisch für einen starken Überwachungsstaat» einstehe. Seiler selbst wollte sich auf Anfrage nicht äussern.
Nachweislich illegale Operationen
Das ist der Hintergrund, vor dem sich der aktuelle Spionageskandal entwickelte: Die Schweiz baute in den vergangenen Jahren den Überwachungsstaat in blindem Eifer aus – und setzte dazu einen Ideologen ohne fachliche Kompetenzen ein. Brisanter wird die Geschichte durch ein Gutachten, das bereits im Dezember 2010 durch das Bundesamt für Justiz erstellt wurde. In Auftrag gegeben hatte es der Bundesrat. Dieser hatte sich im Herbst 2010 zum Ziel gesetzt, auf die «mutmassliche Spionage» durch deutsche SteuerfahnderInnen in der Schweiz mit Gegenspionage zu reagieren. Man müsse auch befreundete Nachbarländer systematisch aufklären und analysieren, heisst es in einem Papier, das am 21. September 2010 im Bundesrat diskutiert wurde. Der Auftrag an das Bundesamt für Justiz, die rechtlichen Grundlagen für solche Operationen zu klären, lässt vermuten, dass nicht alle Bundesräte mit der Idee sympathisierten. Das Ergebnis des Gutachtens vom Dezember 2010 ist denn auch eindeutig: Es gibt keine rechtlichen Grundlagen für einen Einsatz des NDB zum Schutz des Schweizer Finanzplatzes. Mit der Revision des Nachrichtendienstgesetzes wird sich das zwar demnächst ändern. Doch die Spionageoperation in Deutschland soll nur wenige Monate nach dem Gutachten gestartet worden sein. Und ob sich Daniel M. dem NDB nun selbst anerbot oder nicht: Die Absolution von Nachrichtenchef Seiler brauchte es ohnehin für eine solche Operation.
Das Gutachten des Bundesamts für Justiz ist brisant: Wenn schon im Dezember 2010 bekannt war, dass die Spionageoperation keine rechtlichen Grundlagen hatte, stellt sich die Frage, ob nicht auch die Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments (GPDel) versagte – oder aber Seiler Informationen zurückhielt. Ueli Leuenberger, der von 2012 bis 2015 Mitglied der GPDel war, sagt: «Ich erlebte Seiler grundsätzlich als wenig transparent. Er ist vor allem daran interessiert, seine Interessen durchzusetzen. Wer den vollen Überblick haben wollte, musste gezielt nachbohren und hartnäckig sein.» Auch Seilers Antwort auf eine Anfrage des grünen Nationalrats Balthasar Glättli betreffend die rechtlichen Grundlagen für seine Spionagetätigkeit lässt den NDB-Chef in einem zweifelhaften Licht dastehen. In einem Schreiben zitierte er aus dem Gutachten des Bundesamts für Justiz: «Dem Inlandnachrichtendienst steht ein weites Betätigungsfeld offen, soweit es darum geht, Aktivitäten in der Schweiz frühzeitig zu erkennen und aufzudecken, die Züge des verbotenen wirtschaftlichen Nachrichtendienstes aufweisen; nach geltender Rechtslage besteht dafür eine genügende gesetzliche Grundlage.» Das steht tatsächlich in dem Gutachten, hat aber mit Auslandsspionage nichts zu tun.
Balthasar Glättli fordert nun eine unabhängige Aufklärung der Geschehnisse durch eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK). «Die Aufklärung muss sowohl Seilers Rolle als auch die Korrektheit der GPDel betreffen», sagt er. «Die Geschäftsprüfungsdelegation kann eine solche Untersuchung nicht glaubwürdig leisten.» Vorderhand aber bleibt die GPDel mit dem Fall betraut. An die Öffentlichkeit treten derzeit, mit Verweis auf das laufende Verfahren, keine ihrer aktuellen Mitglieder.