Von oben herab: Da ist was faul
Stefan Gärtner über die Misere von Einkaufszentren
Ich habe, unter anderem, eine Lampe geerbt. Die Lampe stand bei meinen Eltern auf einem Tischchen neben dem Sofa, und jetzt steht sie auf einem Tischchen neben meinem Sofa. Der Lampenschirm, einst weiss, ist jetzt so grau wie ein Schmutzrand unterm Fingernagel, und natürlich denke ich nicht, dass ich später in den Lampenladen gehen könnte und sehen, ob es da einen neuen Schirm für meine Lampe gibt. Ich denke: Hey, suchst du mal im Internet nach Lampenschirmen online, und wirklich ist lampenschirme-online.de der erste Treffer. Es gibt auch eine Seite mit dem hervorragenden Namen schirmo.de, aber alles hat bekanntlich seine Grenzen.
Oder eben nicht.
20min.ch meldet: «Der Siegeszug des Online-Handels schreitet unaufhaltsam voran», denn die fünf grössten Onlinehändler haben erstmals mehr Umsatz gemacht als die fünf grössten Shoppingcenter. «Allein der Online-Shop von Nespresso machte 375 Millionen Franken Umsatz – mehr als das Zürcher Shoppingcenter Sihlcity.» Da geht es hin, und das Einfachste wäre nun zu sagen: Ich verstehe es nicht, dabei verstehe ich es freilich gleich. Ich nutze keine Nespresso-Kapseln, aber wäre ich Nespresso-Kapsel-Nutzer, dann führe ich sicher nicht wegen neuer Nespresso-Kapseln in den Nespresso-Kapsel-Store, sondern sähe, meinem dringenden Mangel an Nespresso-Kapseln abzuhelfen, im Onlineshop von Nespresso vorbei. Dann müsste ich weder ins Tram, noch müsste ich dabei zusehen, wie Leute im Nespresso-Kapsel-Store mit dem Verkauf von Nespresso-Kapseln ihren Lebensunterhalt verdienen; im aktuellen Reklamespot des Fresslieferportals Lieferando sind ja gleichfalls bloss die gut gelaunten, urbanen Youngster zu sehen, die zu jeder Zeit an jedem Ort der Urform des Konsums (dem Fressen nämlich) frönen, und nicht die womöglich weniger gut gelaunten, die für maximal Mindestlohn die Pizza in den fünften Stock tragen.
Der Einzige, den ich zu sehen bekäme, wäre am nächsten Tag der Paketbote, wie Konsumkapitalismus, bei Sennett («Verfall und Ende des öffentlichen Lebens») ist es nachzulesen, ja schliesslich auf Passivität beruht, da können sie in der Werbung herumhampeln und aktiv tun, wie sie wollen: «Zwischen den neuartigen Konsumanreizen und der neuen, passiven Rolle des Käufers besteht ein Zusammenhang», seit die ersten Kaufhäuser «das Geschäft in ein Spektakel verwandelten und den angebotenen Waren assoziativ eine Bedeutung verliehen, die ihnen an sich abging», zuvörderst durch «die unerwartete Kombination verschiedener Waren», die ihre Gebrauchswerte gegenseitig ausblendeten, indem sie einander als fremd und besonders in Szene setzten. Das sorgt bis heute für «eine Art von Desorientierung», der anders als durch Kaufen kaum begegnet werden kann.
Mit dem Internet als in diesem Sinne idealem Warenhaus kann selbst das grösste Shoppingcenter nicht konkurrieren, das die Passivität, die es braucht, damit sich nötige von unnötigen Einkäufen nicht mehr unterscheiden lassen müssen, dann doch nicht so mustergültig bedient wie das Onlinegeschäft. In ihm findet Kapitalismus als entgrenzter für Beschränkte seine Erfüllung, wenn die fetischisierte Ware ganz rein als marxsche «Hieroglyphe» erscheinen kann, ohne dass mehr als der Paketbote noch an den gesellschaftlichen Charakter von Produktion und Verteilung erinnern müsste. Bis dann den Lampenschirm die Drohne bringt. Sie arbeiten gottlob daran.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.