Buch: Einschneidende Erinnerungen

Nr. 22 –

Schon nach den ersten paar Sätzen ist die Herbstwärme der Sonne auf der Haut zu spüren, liegt der Geruch von trockenem Laub in der Luft und ist das Aufatmen nach einigen düsteren Tagen zu erahnen: Chaim Noll erschafft in den Kurzgeschichten in «Schlaflos in Tel Aviv» von Beginn an eine eingängige Stimmung. Er zieht die Leserin mit starken Charakteren, die er durch ihren Alltag in Deutschland oder Israel begleitet, in den Bann, die Handlungen und Dialoge sind direkt und klar. Und die einschneidenden Erinnerungen der Figuren verströmen eine melancholische Grundstimmung.

Etwa die Judenverfolgung in der titelgebenden Kurzgeschichte: Eine ältere Frau erzählt, wie sie als Mädchen in einer Gruppe jüdischer Kinder aus Deutschland nach Israel emigrierte. Wie die Eltern einmal noch zu Besuch kamen. Wie 1936 weder das lichtdurchflutete Haifa noch ihr Flehen und Bitten die Eltern zum Bleiben bewegen konnten: «All mein Gerede in dieser Nacht hat nichts bewirkt. Dabei wusste ich, dass sie einen tödlichen Fehler machen.»

Diese Tragik jüdischen Lebens wird in den zwischen 1987 und 2015 verfassten Erzählungen mit der aktuellen ergänzt: dem Konflikt im Nahen Osten. Das Spektrum an Positionen ist dabei breit. Da ist einerseits die Schwester einer Protagonistin, die dieser vorwirft, in den israelisch besetzten Gebieten zu leben und damit die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik mitzuverantworten. Andererseits fordert ein Libanese, der einen israelischen Protagonisten trifft, diesen bezüglich Hisbollah auf: «Ihr müsst sie richtig kaputtmachen. Sie sind das Böse …»

Chaim Noll wuchs in Ostberlin auf und lebt heute in Israel. Dass er dessen Politik unterstützt, schimmert in der Anthologie durch und äussert sich auch in Kritik am Islam, die Noll 2011 eine Veröffentlichung in der neurechten Zeitschrift «Sezession» einbrachte. Dies ist erstaunlich, da der deutsch-israelische Autor in seinen Erzählungen mit politischen Fragen eigentlich behutsam und differenziert umgeht.

Chaim Noll: Schlaflos in Tel Aviv. Erzählungen. Verbrecher Verlag. Berlin 2016. 243 Seiten. 32 Franken