Agrarpolitik: Für ungespritzte Äpfel und offene Grenzen
Die «Denkwerkstatt» Vision Landwirtschaft äussert sich immer wieder sehr kritisch zur Schweizer Landwirtschaft. Der vor zehn Jahren gegründete Verein gibt sich radikal ökologisch, plädiert aber auch für Freihandel. Geht das zusammen?
Vision Landwirtschaft? Kaum fällt dieser Name in bäuerlichen Kreisen, polarisiert er. «Blauäugig in Bezug auf die Marktrealitäten» sei der Verein, sagt Rudi Berli, Biogemüsebauer und Aktivist der Gewerkschaft Uniterre. Die grüne Nationalrätin und Biobäuerin Maya Graf stört sich an etwas anderem: «Nur Bäuerinnen und Bauern zu kritisieren, nicht aber Lebensmittelindustrie und -handel, greift zu kurz.» Séverine Curiger von der Kleinbauernvereinigung sieht den Verein positiver: «Dass er die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Syngenta und Co. anprangert, finde ich gut.»
Vision Landwirtschaft (VL) versteht sich als «Denkwerkstatt unabhängiger Landwirtschaftsexperten». Seit der Gründung vor zehn Jahren meldet sich VL zu agrarpolitischen Themen zu Wort – und spart nicht mit Kritik. Dabei fällt zweierlei auf: Einerseits argumentiert der Verein radikal ökologisch. Er hat einen Aktionsplan ausgearbeitet, um den Pestizideinsatz in der Schweiz stark zu senken. Er kritisiert die fragwürdigen hohen Futtermittelimporte und die Abhängigkeit der LandwirtInnen von der zuliefernden Industrie. Er empfiehlt Weidehaltung statt Hochleistungszucht und zeigt, dass die Schweiz ihre Eigenversorgung mit Lebensmitteln problemlos steigern könnte, wenn alle weniger Fleisch ässen.
Andererseits gibt sich VL betont freihandelsfreundlich. Die NZZ zitiert den Verein häufig und publiziert auch Gastkommentare von Ökonom und VL-Vorstandsmitglied Felix Schläpfer. Letztes Jahr schrieb er dort zur Wertschöpfung der Schweizer Landwirtschaft. Diese betrug 2014 laut dem Bund 2,2 Milliarden Franken. Weil Schläpfer anders rechnete, kam er auf ganz andere Zahlen. Die Wertschöpfung ist nach seiner Berechnung negativ: Sie beträgt minus 0,95 Milliarden Franken. Denn Schläpfer zieht fast eine Milliarde theoretische externe Kosten für die Treibhausgas- und Ammoniakemissionen Und vor allem berechnet er den Wert der in der Schweiz erzeugten Lebensmittel nicht zu Schweizer, sondern zu EU-Preisen – damit sind sie 3,5 Milliarden Franken weniger wert. Die Botschaft dahinter ist klar: VL will keinen Grenzschutz für Lebensmittel.
«Vision Landwirtschaft vermischt tatsächliche und hypothetische Zahlen», kritisiert der Ökonom Mathias Binswanger. «Man kann nicht die landwirtschaftlichen Produkte zu EU-Preisen rechnen und den Rest nicht. Ausserdem ist die Berechnung externer Kosten ziemlich willkürlich und ihre Höhe je nach Studie sehr unterschiedlich.»
Tiere dort, wo das Futter wächst
Die Geschäftsstelle von VL liegt in einer Aargauer Gemeinde, die aus anderen Gründen bekannt geworden ist: in Oberwil-Lieli. Doch der Hof Litzibuch steht ausserhalb, auf drei Seiten von Wald umgeben. Hier lebt Andreas Bosshard, Geschäftsführer von VL und im Hauptjob Geschäftsführer von Ö+L, einem Planungs- und Beratungsunternehmen für Agrarökologie.
Die Gruppe, die im Sommer 2007 Vision Landwirtschaft gründete, habe schon vorher regelmässig über Landwirtschaft diskutiert, sagt Bosshard. «Da die Mava-Stiftung für unsere Idee eines ‹Weissbuchs Landwirtschaft› Geld zur Verfügung stellte, konnten wir starten.»
Die Mava-Stiftung wurde 1994 von Luc Hoffmann (1923–2016) gegründet, dem Erben und Verwaltungsrat des Basler Chemiekonzerns Hoffmann-La Roche (heute Roche). Er war Naturliebhaber, Ornithologe und Mitgründer des WWF. Die Stiftung unterstützt national und international diverse Umweltorganisationen, vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau in Frick bis zur Weltnaturschutzunion (IUCN).
Inzwischen hat VL verschiedene Geldgeber. Darunter sind laut Bosshard Einzelpersonen und Stiftungen wie Temperatio und Drittes Millennium. 2016 hat der Verein 315 000 Franken eingenommen.
Im VL-Beirat sitzen unter anderem Philippe Roch, ehemaliger Direktor des Bundesamts für Umwelt, der Ethiker Thomas Gröbly und Raimund Rodewald von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. Im Namen von VL melden sich vor allem drei Vorstandsmitglieder zu Wort: Schläpfer, Bosshard und Markus Jenny, Mitarbeiter der Schweizerischen Vogelwarte Sempach.
Andreas Bosshard ist Mitbewirtschafter eines Biobetriebs. Er baut Tafeläpfel auf Hochstammbäumen an – ungespritzt, auch ohne Biomittel. «Alle sagten, ohne Spritzen gehe es nicht. Als ich versuchsweise aufhörte damit, blieben Ertrag und Qualität bei vielen Sorten praktisch gleich. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich.» Dass sich dieser Mann für eine ökologische Landwirtschaft engagiert, nimmt man ihm sofort ab. Aber warum hat Vision Landwirtschaft ein Interesse daran, die Wertschöpfung der Schweizer Landwirtschaft möglichst schlecht aussehen zu lassen? Warum befürwortet ein Verein, der umweltschonende Produktionsmethoden, kurze Wege und geschlossene Kreisläufe propagiert, den Agrarfreihandel?
«Die überbordenden Tierbestände sind eines der Hauptprobleme der Schweizer Landwirtschaft», sagt Bosshard. «Wir importieren enorme Futtermengen, darum haben wir rekordhohe Ammoniak- und Nährstoffüberschüsse. Die zu hohen Tierbestände sind vor allem ein Produkt des Grenzschutzes. Denn ohne diesen wäre die industrielle Veredelungsproduktion, die billiges Landwirtschaftsland nutzt, aber nichts mit bodengebundener Landwirtschaft zu tun hat, niemals wirtschaftlich.»
Weil der Grenzschutz den Markt verzerre und Anreize für nicht nachhaltige Produktionsformen setze, stellt ihn Vision Landwirtschaft infrage – in der Erwartung, dass bei einer Grenzöffnung die Tierbestände sinken würden.
Dass dann mehr Fleisch importiert würde als heute, sei beim heutigen hohen Fleischkonsum nicht zu vermeiden, aber ökologisch nachhaltiger: «Die Tiere sollen dort leben, wo auch das Futter wächst. So ist der Nährstoffkreislauf geschlossen. Und wir können auch auf die Haltungsbedingungen im Ausland Einfluss nehmen.» Die Migros mache es vor: Der Grossverteiler hat versprochen, bis 2020 bei importierten Produkten die Schweizer Tierschutzstandards durchzusetzen.
In der Schweiz schwebt Vision Landwirtschaft eine «Vielfalt der Nischen» vor: «Jeder Betrieb hätte diverse Alternativen. Es gibt ein grosses Innovations- und Verbesserungspotenzial in der Landwirtschaft.»
Nahe bei Economiesuisse
Druck macht innovativ – sagt die liberale Theorie. Das Problem ist nur: Es gibt in der Landwirtschaft kaum Hinweise darauf, dass diese Theorie stimmt. Vor allem dann nicht, wenn man mit «innovativ» wie VL ökologische Musterbetriebe meint. In Österreich zum Beispiel gibt es zwar kreative LandwirtInnen, die neue Wege gehen, etwa in der Direktvermarktung. Doch die grosse Mehrheit versucht, mit den EU-Preisen mitzuhalten – hoch verschuldet und unter Dauerstress. Die Wege werden nicht kürzer, die Kreisläufe nicht geschlossener, im Gegenteil.
Bei einer Marktöffnung gäbe es keinerlei Garantie dafür, dass die Masttiere wirklich dort leben würden, wo das Futter wächst. Die Preisdifferenz zwischen ökologischen Schweizer Produkten und Billigimporten würde zunehmen; damit kämen wohl auch die Preise für Schweizer Produkte unter Druck. Andreas Bosshard hält dagegen: «Ich glaube nicht, dass die Preise sinken würden, sofern sich die Schweizer Landwirtschaft mit einer besonders ökologischen Produktion genügend abheben kann. Wir haben in der Schweiz hervorragende Bedingungen: eine hohe Kaufkraft, und die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter der Landwirtschaft.»
Eine «Vielfalt der Nischen» würde auch einen anderen Handel bedingen – nicht wie heute, wo wenige Grossverteiler die Bedingungen diktieren und vor allem an grossen Mengen interessiert sind. Das thematisiert VL aber kaum. «Stimmt, dieses Thema ist bei uns unterrepräsentiert», räumt Bosshard ein. «Man kann sicher vieles dezentral effizienter machen. Auch Urban Agriculture ist eine wichtige Nische, sie bringt frischen Wind.»
Welchen Parteien steht Vision Landwirtschaft am nächsten? «GLP und SP», sagt Bosshard. Vision Landwirtschaft habe keinen Zutrittsberechtigten im Bundeshaus. «Wir haben Kontakte, aber nicht die Ressourcen, um im grossen Stil präsent zu sein.» Auf die letzte agrarpolitische Reformetappe, die Agrarpolitik 2014–2017, nahm VL allerdings durchaus Einfluss – oft zusammen mit dem Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Der grosse Verband und der kleine Verein forderten im Grundsatz dasselbe: Direktzahlungen soll es nur noch für «gemeinwirtschaftliche Leistungen» wie Biodiversität, Tierwohl oder Landschaftsqualität geben, andere Beiträge gehörten umgelagert.
Ist es nicht riskant, mit einer Organisation zusammenzuspannen, die für alles andere als ökologische Politik steht? Bosshard verneint. «Wir haben eine pragmatische Zusammenarbeit mit Economiesuisse – wie mit vielen anderen auch. Wenn wir glauben, eine Organisation könne in unserem Sinn etwas bewegen, arbeiten wir mit ihr zusammen. Wir haben Economiesuisse Argumentationen und Fakten geliefert, und sie haben im Gegenzug manche unserer Anliegen im Parlament vertreten. Es war ein Geben und Nehmen.» Geld sei aber nie geflossen. Und in anderen Bereichen, etwa Gentechnik oder Energiepolitik, seien sich VL und Economiesuisse überhaupt nicht einig.
Schon das Economiesuisse-Dossier zu Landwirtschaftspolitik von 2006 – noch vor der Gründung von VL – basierte hauptsächlich auf einem Artikel von Felix Schläpfer in der «NZZ am Sonntag». Auch heute sind die Positionen noch oft deckungsgleich: Im Winter 2015/16 nahm Economiesuisse Stellung gegen die Initiative für Ernährungssicherheit des Bauernverbands – der Link darunter führte direkt zu einem VL-Text. Und in einer Stellungnahme zum Agrarbudget 2018–2021 stellte Economiesuisse genau die gleichen drei Forderungen wie VL.
Der Tierschützer zweifelt
Einer, der sich schon lange mit Agrarpolitik herumschlägt, ist Hansuli Huber. Er arbeitet seit 32 Jahren beim Schweizer Tierschutz (STS). Und kämpft bei vielen Themen für das Gleiche wie VL: «Wenn man sieht, wie stark viele Bauern mechanisiert sind, wie viel Kraftfutter gefüttert wird – das ist absolut fragwürdig. Auch bei den Pestiziden bin ich mit Bosshard einig: Da müssen wir reduzieren. Aber» – und hier hört die Einigkeit auf – «man kann nicht in einer angespannten Situation mit immer noch mehr Vorschriften kommen. Das Problem ist doch: Der Konsument zahlt gleich viel für einen Liter Milch wie vor dreissig Jahren. Aber damals bekam der Bauer mehr als einen Franken. Jetzt bekommt er noch fünfzig Rappen, und der Handel sackt den Rest ein.»
Huber glaubt nicht an offene Grenzen: «Wenn wir eine Qualitätsproduktion wollen, braucht es Grenzschutz. Im offenen Markt können sich nur die Stärksten durchsetzen. Die Schwächeren – Arbeiter, Bauern und Tiere – leiden alle.» Dem Tierschützer fällt auf, dass sich in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten die Tierwohlprogramme für Weidehaltung und tierfreundliche Ställe stark entwickelt haben, in der EU dagegen kaum. Darum kommt er zu einem ganz anderen Schluss als Vision Landwirtschaft: «Weil wir uns nicht mit den grossen Tierproduzenten in Deutschland oder Holland messen müssen, können wir Innovationen wagen.» KonsumentInnen über die Bedingungen in der Lebensmittelproduktion aufzuklären, sei zwar wichtig, funktioniere aber nur beschränkt: Viele kauften trotzdem das Billigste. «Wenn der Markt offen ist, haben auch Schweizer Verarbeiter wie Micarna kaum noch eine Chance. Da warten Giganten wie Tönnies, die könnten die Schweiz nebenbei versorgen.»
Mit ihrer Forderung hat Vision Landwirtschaft recht: Die Schweizer Landwirtschaft muss dringend ökologischer werden. Aber was ist die richtige Strategie dafür? In den letzten Jahrzehnten hat sich das agroindustrielle Modell global ausgebreitet: mehr Gigantismus, mehr Transporte, mehr Big Business. Dass ausgerechnet die weitere Entfesselung dieser Kräfte mehr Ökologie in die Schweiz bringen soll, ist da doch eine ziemlich seltsame Idee.