Oskar Maria Graf: «Verbrennt mich!»

Nr. 25 –

Antifaschist, Provinzschriftsteller, Anarchist, bayerisches Urvieh – Oskar Maria Graf hatte viele Gesichter. Porträt eines aussergewöhnlichen Autors zu seinem 50. Todestag.

Die politische Revolution nach dem Ersten Weltkrieg ging mit einer Kunstrevolution einher, und genau der hatte sich 1920 die Neue Bühne in München verschrieben. Der Dramaturg dieses Arbeitertheaters erhielt eine Flut an mediokren Manuskripten, die er ungelesen ablegte. Eines Tages fiel ihm ein Päckchen auf, das in Kleinbuchstaben adressiert war. «Die Schrift war sehr deutlich, aber man hatte den Eindruck, dass dieses brav anmutende Schulmässige nichts anderes war als eine berechnete Manieriertheit. So pflegten Stefan-Georgeaner zu schreiben. Ich stellte mir also einen schon alt gewordenen Jünger dieses Dichters vor und warf das Manuskript zum Haufen in die Ecke.»

Einen Monat später kam ein «spitznasiger Mensch» ins Büro des Theaters, der «sehr unrasiert und betont proletarisch angezogen war, obgleich sein bebrilltes junges Gesicht eher an einen eben fertig gewordenen Lehramtskandidaten erinnerte. ‹Ich bin Bert Brecht›, sagte er und fragte nach seinem Manuskript.» Der Dramaturg kramte das Päckchen hervor, riss es auf und blätterte kurz im Manuskript «Trommeln in der Nacht». «Das können wir nicht brauchen», befand er. Brecht schaute ihn an wie einen Idioten. «Wissen Sie», rettete sich der Dramaturg, «wir dürfen nämlich feuerpolizeilich immer bloss acht Personen auf der Bühne beschäftigen.»

So verlief die erste Begegnung zwischen Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf.

«Schändlich verprügelt und verwirrt»

Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren, ging wenige Jahre zur Schule und musste nach dem Tod des Vaters 1906 in die Bäckerei der Familie eintreten. Das hiess: Aufstehen um 23 Uhr, backen, 6 bis 12 Uhr Brot austragen, anschliessend Konditorei, um 17 Uhr wieder ins Bett. Er hatte sehr unter der Tyrannei seines ältesten Bruders zu leiden, der es genoss, Schwächere zu demütigen. «Mir ist – um mit Gorki zu reden – ‹mein Sozialismus von Kind an auf den Rücken geprügelt worden›.»

Schliesslich floh er 1911 nach München, schlug sich mal als Arbeiter, mal als Schnorrer durch und begann, expressionistische Gedichte zu verfassen. Graf verstand sich bis Mitte der zwanziger Jahre als Lyriker, war aber ausserhalb von München praktisch unbekannt. Er zog trinkend durch München und Berlin und vagabundierte mit seinem langjährigen Freund, dem Maler Georg Schrimpf, ein halbes Jahr durch die Schweiz und Oberitalien, zeitweilig hielt er sich in der Reformerkolonie Monte Verità auf. Als man ihn 1914 zum Wehrdienst einzog, simulierte er anhaltend einen Wahnsinnigen und wurde schliesslich unversehrt wieder entlassen.

Graf sah sich in einer unterschwellig anarchistischen Familientradition: Seine väterlichen Vorfahren waren aus Tirol eingewanderte Waldenser, Angehörige einer als Ketzer verfolgten religiösen Minderheit: «Ihre Geschichte hatte sie gelehrt, dass Vaterland und Obrigkeit äusserst fragwürdige, unbeständige Dinge seien.»

Mit der Münchner Revolution und der blutigen Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919 durch Freikorps und reguläres Militär beginnt Grafs Politisierung im Umfeld der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Kommunistischen Partei Deutschlands. Er engagiert sich gegen Wiederaufrüstung, Zensur und Todesstrafe und wird Mitglied der Roten Hilfe.

Nach einigen unbedeutenden Publikationen erscheint 1927 das Buch, das vieles ändert: «Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt» erregte grosses Aufsehen und wurde umgehend ins Englische, Französische und Russische übersetzt. Grössen wie Romain Rolland, Maxim Gorki und Thomas Mann lobten das autobiografische Werk. Auf linke Kritik, die Hauptfigur sei kein Revolutionär, sondern nur ein parasitär lebender Bohemien, antwortet Graf, er wolle zeigen, wie die Menschen sind und wie sie sich verändern können: «Mit Versen, mit Lobliedern und Romanen, die immer nur darauf hinauslaufen, dass die Genossen recht haben, gut sind, zu Unrecht unterliegen oder mit Begeisterung siegen, ist wenig getan.»

Graf wird freier Schriftsteller und begreift sein Talent endgültig als eine Verpflichtung in der Tradition Leo Tolstois, den er als sein grösstes Vorbild verehrt. Als er erfährt, dass seine Werke – mit Ausnahme von «Wir sind Gefangene» – im Mai 1933 nicht verbrannt worden sind, weil man ihn für einen bayerischen Volksschriftsteller hält, publiziert er in der Wiener «Arbeiter-Zeitung» seinen berühmten Protest «Verbrennt mich!»: «Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen.»

Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 verlässt er Deutschland endgültig, geht zuerst nach Österreich, dann nach Brno (Brünn) und Prag und zieht schliesslich 1938 mit seiner jüdischen Lebensgefährtin Mirjam Sachs für den Rest seines Lebens nach New York, wo sein zweites Hauptwerk, «Das Leben meiner Mutter», entsteht. Das Buch schildert in ergreifender Nüchternheit das harte Leben einer durch Arbeit und Religiosität geprägten Frau und Mutter, für die jeder Tag von neuem «bezwungen werden muss». Grafs Menschen bedienen nicht das Klischee des heilen Landlebens, sie kämpfen in einer sich wandelnden dörflichen Welt mit existenziellen Herausforderungen. «Blut und Boden»-Fantasien sind ihnen fremd, sie haben sich durch ein oftmals gefährdetes, befremdendes und beängstigendes Leben zu schlagen. Entlang seiner Familiengeschichte schreibt Graf ein Meisterwerk des poetischen Realismus.

Durch Moskau in der Lederhose

Äusserlich kultivierte Graf gern den bayerischen Provinzler. Auf dem Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934 in Moskau stapfte er in kurzer bayerischer Lederhose, kariertem Janker und mit Flaumfederhut umher, ein Aufzug, den er zeitlebens immer wieder anlegte, auch in New York. «So eine simple Tracht macht dich bekannt, ohne dass du was dazutun musst», kommentierte er. Ausserdem pflegte er seinen Dialekt, weil der alle Aufschneidereien entlarve. «Jeder Dialekt, und unser altbayrischer ganz besonders, hat eine schier bestürzende Kraft des respektlosen Profanierens. Es ist auch ein ganzer Haufen Bosheit dareingemischt, gegen deren spezifische Direktheit kein Witz, keine Schlagfertigkeit aufkommt.»

Vor fünfzig Jahren starb Oskar Maria Graf am Ende eines Lebenswegs, der ihn aus der Provinz des 19. Jahrhunderts ins Exil nach New York geführt hatte. Nach Deutschland, das er ab 1958 einige Male besuchte, wollte er nicht zurückkehren. «Was mich gerade in der ‹wirtschaftswunderlichen› Bundesrepublik am meisten anwiderte, war, ganz abgesehen von einem bereits latent gewordenen Antisemitismus, das wiedererwachte, engstirnig provinzielle deutsche Tüchtigkeitsprotzertum, gepaart mit der durchgehenden spiessbürgerlich-nihilistischen Prasserstimmung: ‹Nach uns die Sintflut. Hauptsache, mir geht’s gut.›»

Oskar Maria Graf: «Das Leben meiner Mutter». Roman. Ullstein Verlag. Berlin 2009. 672 Seiten. 18 Franken.

Oskar Maria Graf: «Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis». Roman. Ullstein Verlag. Berlin 2014. 512 Seiten. 18 Franken.

Die biografischen Zitate im Text sind Rosinen aus vielen verschiedenen Büchern Oskar Maria Grafs. Wer sich weiter informieren will, findet Lehrreiches und Unterhaltsames unter www.oskarmariagraf.de.