Private Bibliotheken: Sensationen, die das Internet beschämen

Nr. 41 –

Es gibt zu viele Bücher auf dieser Welt. Was ist zu tun, wenn man zur eigenen noch eine weitere Bibliothek erbt? Erwägungen in einem Minenfeld der Erinnerungen. Zugleich ein Porträt des Sammlers.

Das Testament war mir seit längerem bekannt, aber ich hatte die Kopie in einer Ablage verstaut, aus den Augen, aus dem Sinn. Gelegentlich, etwa als ein anderer Freund eine in 25 Jahren angehäufte Bibliothek zu räumen hatte, wurde ich daran erinnert, dass ich mich in absehbarer Zeit auch um eine politische Sammlung zu kümmern hätte, mit 3000 Buchtiteln und etlichem Dokumentationsmaterial.

Das Ende kam dann schmerzhaft rasch. Am Montag noch hatte ich mit V. im Tessin telefoniert; am Mittwoch kam die Nachricht, V. sei am Vortag im Spital verstorben. Zwei Jahre nach dem Tod seiner geliebten E. war er ihr gefolgt.

Ich hatte die beiden beinahe 30 Jahre lang gekannt. Aus politischen Zusammenhängen war eine Freundschaft entstanden, die wir auch nach der Pensionierung der beiden aufrechterhielten, als sie ins Tessin zogen. Literatur und Politik, das waren zwei Pfeiler ihrer Leben, dazwischen die unverbrüchliche Tatsache ihrer Beziehung, die symbiotisch war. Geordnet und aufgereiht standen in V.s Arbeitszimmer Dokumente zur kommunistischen Bewegung in der Schweiz, marxistische politische Ökonomie, Materialien der internationalen Gewerkschaftsbewegung. In zwei andern Zimmern deutsche Belletristik – Klassiker, 1920er Jahre, Nachkriegswerke –, Schweizer Literatur, praktisch vollständig in Erstausgaben von Friedrich Dürrenmatt bis Peter Weber; dazu 500 Titel französische Literatur, mit einigen Schwerpunkten auf Rolland, Aragon, Triolet, de Beauvoir, Yourcenar, eine italienische und angelsächsische Abteilung, Kunst und Film.

Zwei Leben. Zwei Nachleben. Was geschieht heute mit solchen Artefakten? Die Idee, die Sammlung öffentlich zugänglich zu machen, war bald an der Realität einer sich digitalisierenden Informationsgesellschaft zerbrochen. Jene Studienbibliothek, für die die Bücher einst gedacht waren, hatte ihre Bestände selbst in eine andere aufgelöst, und die wiederum platzt aus allen Räumlichkeiten.

Einem deutschen Künstlerfreund waren etwa 200 Titel vermacht worden, von Ilja Ehrenburg und Kurt Tucholsky sowie etliche schöne Erstausgaben von Frans Masereel, den V. einst, als Mitarbeiter beim Büchersuchdienst Theo Pinkus, betreut hatte. Die engsten Familienangehörigen nahmen einige Bücher mit persönlichen Erinnerungen zu sich, eine Freundin der Verstorbenen wählte rund 400 Romane. Blieben die 3000 politischen Titel sowie weitere 2600 heimatlose belletristische Bücher.

V. hatte nach der Pensionierung alle Bücher in Listen erfasst, mit der Schreibmaschine, einer alten Hermes, für die er jeweils Farbbänder in altmodischen Fachgeschäften besorgen musste. 156 Seiten umfasste die Liste der politischen Bücher, 151 diejenige der Belletristik, dazu jeweils Namenregister; beides begann ich zu studieren, als ich mit dem Zug ins Tessin fuhr. Erwartungsvoll, gespannt, dann zusehends überwältigt ging ich die Buchgestelle durch. Mich selbst interessierte etliches, aber meine Büchersammlung hat bereits in den Luftschutzkeller übergegriffen. Was also wollte ich selbst behalten? Und warum?

Ein Sammler, dessen umfassende Bibliothek zu einem Spezialgebiet ich nur mit Staunen und etwas Neid bewundern konnte, hatte sich vor einiger Zeit dagegen verwahrt, als Sammler bezeichnet zu werden, und mit einigem Grund behauptet, aus seiner Sammeltätigkeit ergebe sich strenge Wissenschaft. Und vor kurzem hatte ein Freund und Journalist bei einem Radiogespräch über eine seiner musikalischen Obsessionen auf die Frage, wie viele CDs er von diesem Musiker besitze, erklärt, er sei kein Sammler, ihm gehe es nicht um Besitz, sondern um Genuss. Die Geringschätzung des Sammelns hatte mich getroffen. Ich selbst gebe zu, ein Sammler zu sein, wenn auch kein sehr systematischer und ausdauernder, und hebe den Begriff von jenem des Jägers ab. Dem Sammler geht es nicht nur ums Erlegen, er will seine Beute vorführen und mit andern teilen. Allerdings sieht auch Walter Benjamin das Sammeln aus dem niedrigen Instinkt des Besitzens entsprungen, billigt aber der darauf aufbauenden, «ans Maniakalische grenzenden Leidenschaft» zu, im besten Fall wissenschaftlich und politisch fruchtbar zu werden.

Jetzt stand ich vor den Regalen und versuchte zu entscheiden, was zu behalten, was wegzugeben, was wegzuwerfen sei. Die blauen MEW, Marx-Engels-Werke in 42 Bänden, ins eigene Büchergestell zu stellen, um die dort etwas verloren wirkenden 10 Bände zu komplettieren – das wäre unproduktiver Trotz gegen den Zeitgeist, von Lenin und Stalin zu schweigen. Die zahlreichen Bücher zur Gewerkschaftsbewegung vermochten mich beim besten Willen nicht richtig zu bewegen, und von den ökonomischen Werken nur einige. Schriften von Robert Grimm, Dokumente zur schweizerischen Sozialdemokratie, zur deutschen Wiederaufrüstung: historisch interessant, aber zu weit weg von den eigenen Interessen.

6000 Titel würden nach fachmännischer Schätzung etwa zweieinhalb Tonnen ausmachen, zu viel für einen einzigen Lieferwagen. Also organisierten wir an zwei Wochenenden mithilfe von Freunden zwei Transporte nach Zürich. Es wurden 116 Tragtaschen beim ersten Mal, 70 beim zweiten Mal. 80 Tragtaschen mit politischen Büchern kamen zu einem Antiquar, der resigniert meinte, natürlich müsse er eine solche Sammlung übernehmen, obwohl sein eigenes Lager selbst überquoll. Schwieriger wurde es mit der Belletristik. Romane nach 1945 haben im Antiquariat kaum mehr eine Chance, werden für 5 Franken angeboten und wandern nach kurzer Zeit ins Brockenhaus. Generell, erklärte ein anderer Antiquar, sei der Markt für das sogenannte Gebrauchsbuch durch das Internet zusammengebrochen. Im ZVAB, dem Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher, werden 12 Millionen Titel angeboten, was die Preise auf einen Blick aufs niedrigste Niveau senkt.

Diese Bände, solide oder zerbrechlich, üppig verziert oder nüchtern gebunden, vergegenständlichte geistige und körperliche Arbeit, sollten nichts mehr wert sein, nicht mehr zu gebrauchen, nicht mehr nachgefragt? Tagelang tastete ich mich durch die verbliebenen Tragtaschen, nahm jedes einzelne Stück in die Hand. Ach, diese taktilen Sensationen, die das Internet und die digitale Informationsvermittlung beschämen. Dieses spröde Rascheln beim Blättern in alten Büchern.

Beim Beschauen bestätigten sich Lebensabschnitte der Verstorbenen. Oder sie wurden erstmals gegenwärtig. So zeigte sich eine Tradition der Kulturvermittlung in der Westschweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Buchklubs und Büchern aus dem Verlag Skira, die, wie ein Kollege erklärte, eine wichtige Funktion beim Durchsetzen eines modernen Designs erfüllt hatten.

Oder es ergaben sich historische Querschnitte. Richard Wrights kritischer Band «Wir Neger in Amerika», eine Büchergilde-Ausgabe von 1948, lag neben «Der Neger im amerikanischen Leben», herausgegeben vom US-Archiv-Dienst, Frankfurt 1952. Im Kalten Krieg behauptete der Band mit vielen Fotografien, dass es mit der Diskriminierung der Schwarzen gar nicht so schlimm stehe. Dagegen stellte ein kleines Heftchen, «USA in Wort und Bild», herausgegeben in Ostberlin 1951, die These auf, dass die Schwarzen in den USA für Frieden und Freiheit kämpften, und dokumentierte auf einer Doppelseite «(Sport in den USA» die Dekadenz des Klassenfeinds mit Bildern über Schaukämpfe von im Schlamm ringenden oder boxenden Frauen.

In etlichen Büchern fanden sich Rezensionen beigelegt, gelegentlich auch Hinweise auf die Umstände des Kaufs. So reiht man sich ein in eine Kette von BuchbesitzerInnen und LeserInnen. Eine Broschüre, ein Nachdruck von Rosa Luxemburgs Artikel «Die Eroberung der politischen Macht», erschienen in Nürnberg als Nr. 7 der «Kernschriften für das revolutionäre Proletariat», schon etwas zerfleddert, war – durch einen Stempel ausgewiesen – aus der Bibliothek der Kommunistischen Partei Basel. Andere Broschüren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stammten aus einer Gewerkschaftsbibliothek, Schriften von Leonhard Ragaz oder Gottlieb Duttweiler, als es der Migros noch um eine neue Schweiz ging und nicht nur um den neusten Caffé Latte. Aus zu viel Nostalgie retteten mich gelegentlich Pamphlete über Verräter an der Arbeiterklasse, zeitgenössisch zu lesen und dennoch Frösteln auslösend.

Ist auch Brecht nur noch Nostalgie? Da stapelte sich die 20-bändige Taschenbuchausgabe von 1967. Hoffnungslos, die noch irgendwo unterbringen zu wollen. Da stand aber auch eine Erstausgabe «Leben Eduards des Zweiten von England», Potsdam 1924, Gustav-Kiepenheuer-Verlag. Und da war «Furcht und Elend des III. Reiches», aus dem Aurora-Verlag im New Yorker Exil 1945. Was weht einen da an? Und warum? Ich verlor mich in einem kleinen Arche-Bändchen von Günther Anders mit Gesprächen und Erinnerungen an Brecht, das witziger und präziser war als alle Würdigungen zum 50. Todestag; später merkte ich mit gelinder Beschämung, dass ich es schon besessen hatte. So erfuhr ich in den Büchern nicht nur das fremde Leben, sondern sie warfen mir auch Fragmente meines eigenen zurück.

In London hatte ich mich einst in einer Arbeitsgruppe mit deutschsprachiger Exilliteratur in Grossbritannien beschäftigt; und eine Kollegin hatte vom Schicksal des Juristen Hans Litten erzählt, der von den Nazis ermordet worden war. Jetzt lag vor mir der Rechenschaftsbericht von dessen Mutter, Irmgard Litten, mit einem Zettel auf dem Umschlag: «Fehleinband. Nicht für den Verkauf bestimmt.» Den Zettel traute ich nicht abzulösen, aber dem Buchrücken liess sich entnehmen, dass im französischen Exilverlag 1940 ein paar Buchstaben des Titels durcheinander geraten waren: «Die hôlle sieht Dich an», hiess es da. Daneben ein Band von Hermann Adler, auf den sein Sohn Jeremy Adler, ein hervorragender Literaturwissenschaftler, bei vielen Gelegenheiten als frühen und profunden Analytiker des Faschismus hingewiesen hatte. Ein merkwürdiges Unterfangen: Hermann Adlers «Gesänge aus der Stadt des Todes», 1945 erschienen im Oprecht-Verlag, versuchten, in klassizistischen Formen in der «altehrwürdigen Sprache der Mörder» den Horror des Gettos und der Konzentrationslager zu fassen.

Dazwischen gerieten wir an wunderschöne grellbunte Scherenschnitte, die ein Verleger, der mit einer Chinesin verheiratet ist und chinesische Werke veröffentlicht, freundlicherweise identifizierte. Danach zeigten die hauchdünnen Seidenpapiere Masken von Figuren aus der Peking-Oper, gefertigt im Bezirk wie in der Provinz Hebei, bekannt für ihre Scherenschnitttradition, herausgegeben von einem Verlag für angewandte Kunst in Beijing, vermutlich in den 1950er Jahren, jedenfalls nach 1949 und sicher vor der Kulturrevolution.

Ins Büchergestell wanderte auch eine 1917 in der Genossenschaftsdruckerei in Zürich erschienene Broschüre «Der Attentatsprozess gegen Dr. Friedrich Adler». Dieser, Sohn des österreichischen Sozialistenführers Victor Adler, hatte 1916 den österreichischen Kriegsminister Karl Graf Stürgkh erschossen und war zum Tode verurteilt worden, wobei das Urteil in der zusammenbrechenden k. u. k. Monarchie nie vollstreckt worden war. Vor ein paar Jahren hatte es in der Robert-Musil-Forschung einen kleinen Streit abgesetzt, ob Musil sich in einer Notiz zum Dilemma des pazifistischen Gewalttäters womöglich mit dem Fall Friedrich Adler auseinandergesetzt hatte. Der Frage wäre jetzt auf neuer Textgrundlage nachzugehen; vielleicht trägt mein Sammeln auch zur Wissenschaft bei.

Während die Büchergestelle noch voller wurden, wollten die Tragtaschen nicht wirklich weniger werden. Dann entzifferte ich einen Gedichtband von Gerard de Nerval, ausgewählt und übersetzt von Albert Béguin. Béguin, in La Chaux-de-Fonds geboren, hatte 1939 eine Dissertation über die deutsche Romantik veröffentlicht, die 1972 von meinem Gymnasiallehrer ins Deutsche übersetzt worden war; der wiederum hat sich seit fünfzehn Jahren einen Namen als Herausgeber der Bonstettiana gemacht, der historisch-kritischen Edition der Briefkorrespondenzen des Berner Patriziers Karl Viktor von Bonstetten, einem unglaublichen Monument der Gelehrsamkeit. Was sollte ich mit diesem Nerval-Band, der unzweifelhaft zu einem Menschen wie meinem ehemaligen Deutschlehrer gehörte? Wären nicht auch andere Bücher bei andern Menschen besser aufgehoben? Gezielt verschenkt, erhielten sie ein sinnvolleres Nachleben, und auch die Verstorbenen lebten weiter, in einem wenn auch nur punktuellen Erinnern.

Bei einer Einladung ergab sich die erste Gelegenheit, keinen der Gäste ohne Buch aus dem Haus zu lassen. Während ein guter Freund die Erstausgabe von Thomas Manns Rede «Freud und die Zukunft», Wien 1936, erhielt, bekam seine Frau ein Kochbuch mit Rezepten für Kalbshirn, das sie uns einmal als besondere Delikatesse gepriesen hatte; mit dem Hirn für die Frau im Gegensatz zum männlichen Unbewussten wurden Geschlechterklischees subtil unterlaufen, und wenn sie wollte, durfte sie auch in den Freud-Text hineinschauen. Einen Freund, dessen frühes Romanmanuskript in einer Ablage bei mir ruht, beschenkte ich mit der Autobiografie von Auguste Forel, der in ebenjenem Manuskript eine Rolle spielt, worauf er die Erinnerung an solche Jugendsünde mit beinahe überzeugend gespielter Empörung quittierte. Eine Freundin erhielt einen Roman aus der damaligen DDR geschenkt, über den wir einst gemeinsam eine eher fragwürdige Seminararbeit verfasst hatten, was sie durchaus erheiterte. Dagegen rief andernorts eine illustrative Anspielung auf einen Neujahrsgruss, der uns einst durch einen erotischen Beiklang überrascht hatte, ein eher zwiespältiges Echo hervor. Noch vor Ort setzte ein kleiner Tauschhandel ein, als der Historiker beim Ökonomen eine Schrift zur Mitbestimmung in der Schweiz ausbat, die er für eine kommende Arbeit zu verwenden gedachte. Anderen konnte ich nur geben, was sie schon besassen, zum Beispiel das dritte Exemplar einer offenbar nicht eben seltenen Ulrich-Bräker-Edition. Es gibt zu viele Bücher auf dieser Welt.

Weiterhin unternehme ich dilettantische Ausflüge in unbekannte Welten. Da findet sich beispielsweise ein Band «Poèmes de la France malheureuse», 1942 in Neuenburg gedruckt, von Jules Supervielle, der mit einem längeren Eintrag in Wikipedia vertreten ist. Und wer, verrät ein anderer Artikel, hat diesen Band herausgegeben? Albert Béguin. In den 1941 von ihm begründeten «Cahiers de Rhône» erschienen bis Kriegsende 61 Bände, darunter Aragons «Les Yeux d’Elsa» und Texte von Paul Eluard, die sich ebenfalls in der vermachten Bibliothek finden. Bücher sind ein Netzwerk und wir vielfältig darin eingesponnen.