Im Affekt: «Fromme Begeisterung raubt mir den Schlaf»

Nr. 26 –

Wir habens berichtet: Am 16. Juni ist der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (1930–2017) gestorben. Einer aber wollte nicht trauern, sondern singen, weil er vor Begeisterung nicht schlafen konnte. Das war der Schriftsteller Martin Walser, der mit seinem Hymnus im «Spiegel» die Gattung Nachruf in ganz neue literarische, stilistische und affektive Sphären führte:

«Den Trochäus brauche ich nicht, ich will ja nicht trommeln. Ich bräuchte den Hexameter, den vielfüssigen, für den Gesang, der Kohliade heisst. Kohl ist jetzt tot. Es hilft kein Trauern, kein Bedauern und kein Belauern der nächsten Regung.

Fromme Begeisterung raubt mir den Schlaf. Mission heisst die Gewalt, die es schafft, dass ein Mensch ein Fels wird in der Brandung, die Zeit heisst, Kohl ist jetzt tot. Für die, für die er Geschichte geworden ist oder geworden sein wird, ist sein Totsein nichts Spürbares. Bismarck ist auch tot, und das ist, wenn wir an Bismarck denken, das Unwichtigste. Aber Kohl ist JETZT tot. Wer ihn erlebt hat, für den ist er jetzt tot. Jeder so erlebbare Tod ist entsetzlich. Gegen die Bedeutungslosigkeit des sich nichts als wohlfühlwollenden Lebens stimmt sich die Kohliade an, die nichts auslässt, auch das normale Entsetzliche nicht, das der Boden ist, auf dem, schon immer, das Schöne wächst. Ein stummer Schrei ist mein Teil, mein Schicksal Feuilleton. Ich feiere Kohl, weil ich erlebte, wie aus lauter Lebendigkeit und Mission der Fels geworden ist, der dem Entsetzlichen gewachsen ist. Da darf Gesang sein. Der Geschichte genügt Bedeutung. Das Andenken will einen Hauch mehr. Erklärung ist nicht genug. Jetzt ist Verklärung dran. Dass Kohl JETZT tot ist, nur das spüre ich noch. Und wie er jetzt tot ist, das macht ihn unsterblich. Und weil das Entsetzliche jetzt weg ist, ist Unsterblichkeit schön. Und mehr als schön ist nichts.»

Oder wie es schon Frank Hertweck, Leiter der SWR-Literaturredaktion, zum 90. Geburtstag des Schriftstellers im März 2017 formulierte: «Martin Walser ist ganz einfach einer der grössten Schriftsteller, die wir haben.»

Martin Walsers grosser Nachruf, von dem wir hier nur den Schluss zitieren, ist erschienen im «Spiegel» Nr. 26 vom 22. Juni 2017. Zu Helmut Kohl vgl. «Von oben herab» in der aktuellen Ausgabe der WOZ.