Venezuela: Risse im Regierungsblock

Nr. 27 –

Die Proteste der Opposition lassen nicht nach – und für Venezuelas Präsident Nicolás Maduro wird die Situation immer gefährlicher. Die Mehrheit wäre schon zufrieden, wenn sich die Versorgungslage verbessern würde.

Bald des Amtes enthoben? Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega ist die Galionsfigur jener Chavistas, die in Opposition zu Präsident Maduro stehen. Foto: Miguel Gutierrez, Alamy

Langsam geht die Zahl der Getöteten auf hundert zu. Sie wurden von Sicherheitskräften erschossen, von linken Milizen, kriminellen Banden oder Oppositionellen. Manchmal war die Todesursache auch ein Unfall – etwa als Ende April Plünderer Kabel herausrissen und von einem Stromschlag getötet wurden. Seit gut drei Monaten gibt es in Venezuela nahezu täglich Massenproteste gegen Präsident Nicolás Maduro. Beliebter geworden ist die Opposition dadurch nicht. Das Kräfteverhältnis zwischen ihr und der Regierung ist schon lange unverändert.

Nach Meinung der wenigen unabhängigen PolitikwissenschaftlerInnen des Landes stehen rund zwanzig Prozent der Bevölkerung hinter der Opposition. Ihr Ziel: Die Regierung soll gestürzt, die von Maduros Amtsvorgänger Hugo Chávez begonnene und mit der Krise zusammengebrochene Politik der Sozialsubventionen endgültig aufgegeben werden. Diese Absicht wird hinter der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen versteckt, denn die Opposition geht – wahrscheinlich zu Recht – davon aus, dass sie derzeit jede Wahl gewinnen würde, weil die Mehrheit der Bevölkerung Maduro loswerden will. Aber auch hinter dem Präsidenten stehen nach allen Umfragen noch rund zwanzig Prozent. Der gesamte Rest – also die Mehrheit der VenezolanerInnen – ist hauptsächlich mit dem Überleben beschäftigt. Denn die Versorgungslage ist seit bald zwei Jahren katastrophal.

Ein Monatslohn für einen Einkauf

Zwar sind die Regale in den Supermärkten nicht mehr so leer wie vor ein paar Monaten, das Angebot aber entspricht nicht der Nachfrage: So gibt es jede Menge Waschmittel oder sündhaft teures Olivenöl, das kaum jemand haben will, weil das Grundnahrungsmittel Venezuelas, die aus einer Maismehlmasse hergestellten Arepas, in Olivenöl ausgebacken widerlich schmeckt. Für alles, was zum Überleben benötigt wird, muss man stundenlang Schlange stehen oder auf den Schwarzmarkt gehen, wo ein üblicher Lohn mit einem einzigen Einkauf ausgegeben ist. Die Inflation dürfte inzwischen die Tausendprozentmarke übersprungen haben. Da nützt es nichts, dass Maduro am vergangenen Sonntag den gesetzlichen Mindestlohn zum dritten Mal in diesem Jahr erhöht hat. Dieser liegt nun bei 97 531 Bolivares, dazu kommt ein Zuschuss für Lebensmittel in der Höhe von 153 000 Bolivares, den jede Firma bezahlen muss. Nach dem inoffiziellen Wechselkurs der Strasse – und der gilt auf dem Schwarzmarkt – sind das zusammen knapp 20 Franken im Monat.

Geld für den dringend nötigen Import von Lebensmitteln und Medikamenten gibt es nicht in der Staatskasse. Der Schuldendienst des Landes aber wird von Maduro stets pünktlich mit Milliarden US-Dollars geleistet. Viele WeggefährtInnen seines Vorgängers und Ziehvaters Chávez hatten sich unter dem «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» etwas anderes vorgestellt. Der einst feste Volksblock hat Risse bekommen.

Chavistas kritisieren Maduro

Am deutlichsten wurde dies Ende März nach einem fatalen Urteil des Maduro nahestehenden Obersten Gerichtshofs. Dieser hatte das von der Opposition dominierte Parlament seiner Funktionen beraubt. Generalstaatsanwältin Luisa Ortega nannte das einen «offenen Verfassungsbruch». Zwar wurde der Richterspruch auf Anordnung Maduros zurückgenommen, die Opposition aber hatte ihren Anlass für die seither andauernde Protestwelle.

Ortega ist inzwischen die Galionsfigur derjenigen Chavistas, die in Opposition zum Präsidenten stehen. 2007 wurde sie von Chávez ins Amt berufen; sie hat die Ermittlungen geleitet, die Leopoldo López, den Heisssporn der Opposition, für vierzehn Jahre ins Gefängnis brachten. Heute zitiert sie Antonio Benavides, bis vor kurzem Chef der Nationalgarde und jetzt Gouverneur des Hauptstadtdistrikts, wegen «schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen» beim «repressiven Vorgehen gegen Demonstranten» zum Verhör. Die von Maduro einberufene Verfassunggebende Versammlung qualifiziert sie als verfassungswidrig, weil eine gesetzlich vorgeschriebene vorherige Volksabstimmung darüber nicht stattgefunden hat. Im Gegenzug hat der Oberste Gerichtshof ein seit Dienstag laufendes Amtsenthebungsverfahren gegen sie eingeleitet.

Ortega ist nicht allein. Mindestens ein halbes Dutzend ehemalige MinisterInnen unter Chávez gehören inzwischen zu den offenen Maduro-KritikerInnen. Ob es auch in Polizei und Armee rumort, ist schwer abzuschätzen. Der Kriminalpolizist, der Anfang vergangener Woche aus einem gekaperten Helikopter heraus Granaten auf den Obersten Gerichtshof warf und das Innenministerium beschoss, war wohl eher ein Desperado als Teil einer grösseren Verschwörung innerhalb der Sicherheitskräfte. Trotzdem spürt Maduro, dass es für ihn immer enger wird. «Was wir mit Wählerstimmen nicht erreicht haben, werden wir mit Waffengewalt tun», sagte er bei einer Rede kurz vor dem mysteriösen Helikopterflug. Europäische Medien leiten aus solchen Aussagen gern die Gefahr eines Bürgerkriegs ab.

So weit wird es nicht kommen, es fehlt schlicht ein Gegner. Zwar sind auch Mitglieder der militanten Opposition bewaffnet, aber es gibt bislang keinerlei Hinweise darauf, dass sich eine organisierte Rebellengruppe formieren würde. Trotzdem ist zu befürchten, dass Venezuela noch weiter in Chaos und Gewalt versinken wird.