Unruhen in Venezuela: Die Geister, die sie riefen

Nr. 17 –

Nach Plünderungswellen versuchen Opposition und Regierung, ihre AnhängerInnen zu mässigen. Doch ein Grossteil der Bevölkerung fühlt sich von den politischen Anführern längst nicht mehr repräsentiert.

In der Nacht zum Freitag geschah in Venezuela etwas, was in den nächsten Monaten zum Alltag werden könnte. In den frühen Morgenstunden zog der Mob durch El Valle, ein eher armes Quartier der Hauptstadt Caracas. Alte Pneus wurden angezündet, es gab Scharmützel mit Sicherheitskräften. Dann wurde geplündert. Eine Anwohnerin erzählt am Telefon, was sie gesehen hat: «Es waren ein paar Hundert Leute, die das Lebensmittelgeschäft gegenüber gestürmt haben. Die ersten, die wieder herauskamen, hatten Schnapsflaschen dabei. Dann wurden die letzten Lebensmittel herausgebracht. Und schliesslich haben sie alles mitgenommen, was noch da war. Sie haben sogar Stromleitungen und Wasserhähne aus den Wänden gerissen.» Es war lange nicht der einzige solche Überfall. Mindestens elf Menschen kamen dabei ums Leben, fast alle durch Stromschläge, als sie elektrische Installationen zerstörten.

Mit Politik hatte das nur noch mittelbar zu tun. Seit zwei Demonstrationen mit jeweils weit über 100 000 TeilnehmerInnen am Mittwoch zuvor – eine von der Regierung organisiert, die andere von der Opposition – war die Spannung gestiegen. Bis sie sich dann in dieser Mischung aus Verzweiflung und Wut, Hemmungslosigkeit und krimineller Energie entlud.

Auslöser der Unruhen war ein Urteil des obersten Gerichts, das Ende März das von der rechten Opposition beherrschte Parlament seiner verfassungsmässigen Funktionen beraubt hatte (siehe WOZ Nr. 14/2017 ). Der Beschluss wurde nach Interventionen der Generalstaatsanwältin und von Präsident Nicolás Maduro wieder zurückgenommen; die Opposition aber witterte Brüche im Regierungslager und mobilisierte. Die folgenden Demonstrationen waren von gewalttätigen Auseinandersetzungen begleitet, zwölf Menschen wurden getötet.

Brandsätze der Verzweifelten

Angesichts der Verhältnisse ist es für die Opposition nicht schwer, willfährige Schlägertrupps zu finden. Die Inflation lag im vergangenen Jahr bei mindestens 700 Prozent, Lebensmittel können – wenn überhaupt – nur nach stundenlangem Schlangestehen ergattert werden. Medikamente gibt es fast nur auf dem Schwarzmarkt, das öffentliche Gesundheitswesen ist nahezu kollabiert. Es gibt zu viele Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben und bereitwillig Steine und Brandsätze auf Sicherheitskräfte werfen und manchmal auch schiessen. In Polizistinnen und Nationalgardisten sehen sie repressive VertreterInnen einer Regierung, der sie die Schuld am Elend Venezuelas geben.

Präsident Maduro nennt die Opposition «Terroristen» und spricht von einem Staatsstreich, der da inszeniert werde. Er braucht seine Stosstrupps erst gar nicht zu mobilisieren, sie stehen auch ohne Kommando auf der Strasse. Am besten organisiert sind die sogenannten Colectivos, die einst als Selbstverwaltungsorgane in den Armenvierteln gegründet wurden. Sie kontrollieren ihr Territorium meist bewaffnet auf Motorrädern. Sie wissen: Sollte die Opposition an die Macht kommen, werden sie zu den ersten VerliererInnen gehören. Auch sie werden im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen der letzten Tage für Tötungen verantwortlich gemacht.

Maduro im Abseits

Beide Seiten, Regierung und Opposition, haben die von ihnen gerufenen Geister kaum mehr unter Kontrolle. Die rechten Oppositionsparteien vertreten nur die Interessen einer schmalen Oberschicht. Massenhafter Protest gegen die Regierung bedeutet noch lange nicht massenhafte Zustimmung zur Opposition. Auch bei den AnhängerInnen der Regierungspartei stehen immer weniger zu Maduro. Viel mehr als den Präsidenten verteidigen die Colectivos das Erbe ihres 2013 verstorbenen Helden Hugo Chávez; sie wollen zurück zu den für sie goldenen Zeiten seiner Herrschaft. Angesichts der hoffnungslosen wirtschaftlichen und sozialen Situation werden die Grenzen zwischen wie auch immer begründeter politischer Militanz, blindwütigem Zuschlagen und gewalttätiger Armutskriminalität fliessend.

Immerhin scheint es, als hätten Regierung und Opposition ihren Kontrollverlust am Freitag früh erschrocken eingesehen. Die Opposition rief am Wochenende zu Schweigemärschen auf – die Beteiligung fiel bescheiden aus. Die Regierung hielt die Sicherheitskräfte zurück. Es blieb friedlich. Noch ist nicht klar, ob das der Beginn eines Nachdenkens über Entspannung war oder nur ein letztes Durchatmen vor dem grossen Knall.