Urban Gwerder (1944–2017) und Polo Hofer (1945–2017): Einer steigt aus, der andere steigt ein
Urban Gwerder und Polo Hofer standen 1968 im gleichen Jetstream der Zeichen und Töne und schlugen ganz verschiedene Karrieren ein. Rückblick auf eine intensive Phase der Gegenkultur in der Schweiz.
Er habe einmal geträumt, er sei ein gutmütiger Riese und sitze auf einem Berg. Zwischen seinen Füssen Wiesen und Kühe, still und friedlich. Urban Gwerder war damals Alphirt. Er und seine Partnerin hatten die Nase voll vom Gesumse in der Stadt. Auf den stotzigen Hängen im Prättigau hoffte der Unterländer, im Zürcher Kreis 4 aufgewachsen, dem Ausverkauf seiner Ideale entkommen zu können.
Das war Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Zur selben Zeit sang Polo Hofer, geboren im Berner Oberland, wie gerne er doch eine Muschel wäre, die einfach den Deckel zumachen könnte. Leckt mich doch am Arsch, sozusagen – nur nett und charmant vorgetragen, in diesem geschmeidigen Dialekt, der von nun an den Ton angeben würde in der hiesigen Popmusik.
Einer steigt also aus, der andere steigt ein. Und nun sind sie beide tot.
Die Antennen auf Empfang
Urban Gwerder konnte man bis vor kurzem noch im Niederdorf vor der Züri-Bar sitzend antreffen, in einem dicken Wollpullover, manchmal schweigsam, manchmal redselig. Ging man nicht auf seine Konzerte, kannte man Hofer sicher vom Fernsehen. Dort wirkte er, ob im Nachthemd als Hippie oder mit Gilet als Polo, immer ein wenig deplatziert, was ihn sympathisch und doch fremd wirken liess. Lange schien er kaum und dann plötzlich rasend schnell zu altern.
Ich kannte ihn von den Musikkassetten des älteren Bruders, der in den sich langsam ins Neonfarbige auffächernden Spätsiebzigern meinte, Span und Rumpelstilz hören zu müssen, wo doch für einen Pubertierenden nichts geiler war als dieses verschliffene amerikanische Englisch, das man damals auch Kaugummienglisch nannte, weil es so gedehnt daherkam, lässig, cool.
Urban Gwerder hatte früh schon Dialekt ins «Hotcha!» gestreut, das Magazin, das er von 1968 bis 1971 herausgab. Ein Sprachrohr des Undergrounds, jener eigenartigen Mischzone aus Politik und Kunst, dessen nicht geringstes Verdienst es war, sich vom Duden-Deutsch verabschiedet zu haben. Wie ein Schwamm hatte das «Hotcha!» alles aufgesaugt, was in den dunklen Kellergeschossen der Kultur Blasen warf. Hier wurde experimentiert mit Literatur, Collagen und Comics, die sich um Musik, Sexualität und Drogen drehten, die Gravitationszentren von 1968.
Auch Polo Hofer hatte es gelesen, wie er Heinz Nigg in dessen Gesprächsband über die 68er-Generation erzählte, und wer weiss, vielleicht war es ja nicht nur Mani Matter gewesen, der Hofer zum Dialekt verführte, sondern auch Urban Gwerder.
Mit Schuhwichse und Trompete
Gwerder hatte als Vierzehnjähriger schon Gedichte veröffentlicht, lautmalerische, assoziative Gedankenströme, auf Versmass gebrochen. Ausgerechnet die NZZ druckte seine Gedichte, eine erste Buchveröffentlichung liess nicht lange auf sich warten, im Arche-Verlag: «Oase der Bitternis». Danach war Schluss mit etabliertem Kulturbetrieb. Er stellte seine Antennen auf Empfang und tauchte tief in den Musik- und Zeichenstrom aus den USA ein.
In Interlaken färbte derweil Polo Hofer sein Gesicht mit Schuhwichse ein und trat als Louis Armstrong auf, Trompete und weisses Hemd inklusive. Es sei immer schon seine Natur gewesen, andere zu unterhalten, erklärte er seinem Biografen Sam Mumenthaler. Einer, dem das Erzählen leichtfällt, der weiss, wie man eine Pointe setzt. Das setzt die Fähigkeit zum Kompromiss voraus und eine Art Bremse, die greift, bevor man zu weit geht.
Gwerder hingegen kultivierte den Eigensinn, diese sich immer wieder aufs Neue selbstbefeuernde Radikalität der Verweigerung. Immer weiter trieb er weg aus den medialen Uferzonen, die zwischen Kunst und Kommerz für die nötige Sicherheit sorgen. Polo Hofer wird dort später üppig gedeihen, mit gefälligen Songs, manche seien tiefsinnig, Ohrwürmer, Pfadilieder, «Alperose».
Im Flaschenhals
Menschen stehen dem, was von Menschen produziert wird, nie passiv gegenüber. Alles wird immer angeeignet, in der einen oder anderen Weise, und es scheint, als ob es Momente gebe, in denen diese Anverwandlung in gesteigerter Intensität geschieht. Die Jahre um 1965 waren so ein Flaschenhals, in dem sich plötzlich alles beschleunigt.
Das beschrieben Gwerder und Hofer in ihren Memoiren immer wieder: die Musik aus dem Radio, die neue Sprache – und die Barrieren, die die Alten hastig noch gegen das Neue errichteten. Die Basis für jene Transformationen, für die 1968 als Chiffre steht, hatte nicht zuletzt die Hochkonjunktur der fünfziger Jahre gelegt, mit einem schichtenübergreifenden Massenkonsum, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte. Aber, es ist paradox, diese schöne neue Konsumwelt führte auch zu einem immer weiter um sich greifenden Gefühl von Skepsis. Macht die Augen auf, Leute, sang Bob Dylan 1964, wer jetzt nicht schwimmen lernt, wird bald untergehen wie ein Stein.
Längst schon war die Musik des US-amerikanischen Südens eingesickert, vor allem der Rock ’n’ Roll, dieses wilde Amalgam aus «schwarzer» und «weisser» Kultur. Er hatte die Jugend zum Tanzen gebracht, auch in der Schweiz. Danach brachte sie der Blues zum Träumen.
Eigentlich ist es erstaunlich, wie lange es hierzulande dauerte, bis dieses Träumen vom Echten und Tiefen, für das der Blues stand und steht, um sich gegriffen hat. Wie schnell dann die Umwandlung geschah, an Polo Hofers Rumpelstilz und seiner späteren Schmetterband lässt sich das zeigen: Das Englische von Bob Dylan wurde zu Dialekt, schon auf der ersten Rumpelstilz-Single. Der Text stammt von «Just Like Tom Thumb’s Blues», im Original eine barocke Zitateorgie von dylaneskem Zuschnitt, mit Bezügen, die von Edgar Allen Poe über Arthur Rimbaud zu Jack Kerouac reichen.
Dialekt statt Dialektik
Polo Hofer, die Nase im Wind, machte daraus den konsumkritischen, mit ein bisschen Hauruckmarxismus gebeizten «Warehuus Blues». Ein Agitationssong à la Ton Steine Scherben, allerdings weit entfernt von deren dreckiger Härte und wilder Militanz. Dafür in Berndeutsch.
Auch später werden seine Songs kaum je in der verheissungsvollen Schwere ihrer Vorbilder ruhen. Meist dümpeln sie in einer mit Reggae-Elementen karibisierten Schunkelhaftigkeit, auch wenn Polo Hofers Stimme immer markanter wird, immer besser. Das bisschen Gras im Sack nimmt ihm bald keiner mehr krumm, er wird zu Polo national. Dialekt statt Dialektik.
Von Dialektik wollte Urban Gwerder auch nichts wissen. Sicher, er war ein politischer Kopf, irgendwie. Nur diese kompromisslose Ablehnung. Ablehnung wovon? Das ist schwer zu fassen. Aufmerksam hatte er registriert, wie seine Ideale vereinnahmt wurden nach dem kurzen Sommer von 1968: Die Übersetzung zweier Liebesgedichte aus Lenore Kandels «Love Book» ins Zürideutsch hatte ihn 94.20 Franken Busse samt Gebühr gekostet. Zu obszön, hatte die Sittenpolizei noch befunden – und nun überall plötzlich Love und Sex und Dialekt, in der Werbung, überall! Und der globale Underground? Kommerz!
«Ein Gammler ist ein Gammler», verkündete er im «Hotcha!», «niemand fragt nach seiner nationalen Eigenart.» Es gehe darum, internationale Verbindungen zu knüpfen, die Nationen abzuschaffen, Kriege zu verunmöglichen – und um Selbstbefreiung.
Ab auf die Alp
Schwer hatte ihn darum der hämische Vorwurf der NZZ und anderer Zeitungen der etablierten Presse getroffen, mit dem «Hotcha!» doch nur «ausländisches Gedankengut» zu importieren (gemeint war US-amerikanisches). Dabei hatte er das «Hotcha!» gegründet, um als Teil einer eigenen, weltumspannenden Presse dafür zu sorgen, dass «diese Sache», wie er schrieb, «nicht verwässert oder verdreht werden kann».
Was aber war diese Sache? Sicher war für ihn nur, was sie nicht sein konnte: die CIA und Coca-Cola, die «Führer» im eigenen Land, die den Amis nacheiferten, der Sowjetkommunismus, der Konsum, die Entfremdung. Aber was war sie?
Das von Bob Dylan besungene Wasser aber stieg weiter, bis es auch die RebellInnen erfasste. Die, die es ernst meinten, auch wenn sie, wie Urban Gwerder, Gewalt ablehnten, sich in die Seitentäler zurückzogen, statt Sprengsätze zu pflanzen. So wurde er vorübergehend zum Älpler. Zum Frank-Zappa-Experten. Unmöglich, das alles nachzuzeichnen. Aber im Rückblick, und nur so lassen sich die Dinge verstehen, sieht immer alles klarer und übersichtlicher aus.
Vielleicht war das auch für ihn selber so, zumindest scheint dies der Fall zu sein, blättert man sich durch das 1998 erschienene Buch «Im Zeichen des magischen Affen», eine dickleibige Fibel, in der er vieles aus seinem Schaffen zu einem schwindelerregenden Kompendium zusammengebacken hat. Als ich ihn das erste Mal traf, in der Küche einer Uniprofessorin, wo wir uns beide ein wenig langweilten, riss er unvermittelt eine schwere Tasche auf und drückte mir das Buch in die Hände. Lachend, wortlos.
Ob die beiden sich gekannt haben, Polo Hofer und Urban Gwerder? Ob sie miteinander in ein Gespräch gefunden hätten? Fast genau gleich alt waren sie, im selben Jetstream der Zeichen und Töne hatten sie damals gestanden. The Fugs und Frank Zappa hatte der Strom für Gwerder herübergeweht, Bob Dylan und den Blues für Hofer. So lange hatten sie sich damit beschäftigt, bis daraus etwas unzweifelhaft Eigenes geworden war. Das ist es, was Kultur erzeugt – fortwährend schreibt sie Vergangenes in Geschichten um.
Literatur:
Urban Gwerder: «Oase der Bitternis». Gedichte. Arche Verlag. Zürich 1962.
Urban Gwerder: «Im Zeichen des magischen Affen». WOA Verlag. Zürich 1998.
Samuel Mumenthaler: «Polo. Eine Oral History». Picabia. Zürich 2005.
Heinz Nigg: «Wir sind wenige, aber wir sind alle. Biografien aus der 68er-Generation in der Schweiz». Limmat Verlag. Zürich 2008.