Gewalt in Charlottesville: «Die Menschen flogen wie Schrapnellkugeln durch die Luft»

Nr. 33 –

Was ist am vergangenen Wochenende in den Strassen der US-StudentInnenstadt vorgefallen? Welche Rolle spielte die Polizei? Und was bedeutet das Ereignis für den Widerstand? Drei AugenzeugInnen berichten.

Am letzten Wochenende kam es in Charlottesville, einer StudentInnenstadt im US-Bundesstaat Virginia, zu Auseinandersetzungen zwischen rechtsextremen DemonstrantInnen und antifaschistischen Widerstandsgruppen. Dabei raste ein Rechtsextremer mit seinem Auto in eine Menschenmenge. Heather Heyer, eine 32-jährige Anwaltsassistentin und lokale Aktivistin, überlebte den Anschlag nicht. Mindestens neunzehn weitere Menschen trugen teils schwere Verletzungen davon. Wenig später verhaftete die Polizei den Täter.

Was genau fiel in den Strassen von Charlottesville vor? Wer stand wem gegenüber? Was für eine Rolle spielte die Polizei? Und was können linke Widerstandsgruppen in den USA angesichts der Bedrohung tun? Die WOZ sprach mit drei Personen, die vor Ort waren und dem Angriff nur knapp entkommen sind.

«Wie soll dieses gespaltene Land dem Hass entgegentreten?»

Kim Kelly, anarchistische Aktivistin aus New York

«Sekunden bevor der Rechtsextreme das Leben meiner Mitstreiterin Heather Heyer auslöschte, stiess ich einen Freudenschrei aus: ‹Das ist so schön!›, rief ich meiner Freundin zu und umarmte sie in dieser engen Strasse von Charlottesville. Im selben Moment raste dieser graue Dodge Challenger an uns vorbei, mitten in die Menschenmenge vor uns, prallte gegen eine Limousine und fuhr dann rückwärts davon. Den Geruch der durchdrehenden Reifen habe ich noch immer in der Nase.

Wir waren aufgekratzt, als wir – ein bunter Haufen aus Anarchisten, Antifaschisten, Sozialisten und Gewerkschaftern – in diese Strasse einbogen. Zuvor hatten wir eine Gruppe Neonazis aus einem Stadtpark verjagt. Unsere Slogans hallten durch die Strassen: ‹Black liberation!›, ‹Women’s liberation!›, ‹Freiheit für alle, nicht für ein paar Privilegierte!›. Von so vielen Leuten umgeben zu sein, die leidenschaftlich dafür kämpften, den Rechtsradikalen nicht die Strasse zu überlassen, war sehr inspirierend.

Der Anschlag riss uns schlagartig aus dieser Euphorie. Als das Auto in die Menge raste, blieb für einen kurzen Moment die Zeit stehen. Vor mir flogen Menschen, die eben noch gelacht und gesungen hatten, wie Schrapnellkugeln durch die Luft. Dann schrien alle durcheinander, panikartig riefen die Leute die Namen ihrer Freunde und Geliebten. So auch ich. Glücklicherweise fand ich alle, niemand war schwer verletzt. Wir brachten uns daraufhin in einer nahe gelegenen Kirche in Sicherheit. Mein einziger Gedanke in diesem Moment: Ich muss mein Handy aufladen, um meinen Partner anzurufen.

Noch in der Kirche spürte ich, wie heftig mir dieser tödliche Angriff zusetzte. Ich wusste aus den Nachrichten und aus Geschichtsbüchern, dass tödlicher Hass zur menschlichen Natur gehört. Aber noch nie hatte ich diesen Hass so nah und so monströs erlebt. Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, einen solchen Hass in sich zu tragen, und ich weiss nicht, wie dieses gespaltene Land diesem Hass entgegentreten soll. Aber ich weiss, dass wir die Tapferkeit und das Opfer von Heather Heyer, die ich persönlich nicht kannte, nicht vergessen werden. Die Neonazis werden uns unsere Freude am Leben nicht rauben – genauso wenig wie unsere Entschlossenheit, gegen sie anzukämpfen.»

«Ich habe noch nie eine derart passive Polizei erlebt»

Carl Barnett*, Antifaschist

«Ich komme aus Richmond, der Hauptstadt des Bundesstaats Virginia, und bin in der dortigen Punkszene gross geworden. In dieser Subkultur waren und sind Naziskinheads eine reale, gewalttätige Gefahr. Charlottesville liegt eine gute Autostunde nordwestlich von Richmond. Meine Freundin lebt dort, und ich kenne Leute von der lokalen Antifa. Die organisierten zusammen mit weiteren Gruppen, etwa der Black-Lives-Matter-Bewegung, den Widerstand gegen die Neonazis. Für mich ist dieser lokale Ansatz sehr wichtig.

Die Kundgebung der Neonazis, die praktisch alle von ausserhalb kamen, begann am Freitagabend mit einem spontan organisierten Fackelumzug. Leider haben wir zu spät davon erfahren. Am Ende stellte sich nur eine kleine Gruppe von vielleicht zwanzig Leuten den mehreren Hundert Neonazis entgegen. Arm in Arm standen sie vor einer Statue von Thomas Jefferson, wurden umzingelt, bedroht und verprügelt.

Und was tat die Polizei? Sie stand daneben und schritt nicht ein respektive viel zu spät. Dieses Muster zog sich durch das ganze Wochenende. Ich habe viele Auseinandersetzungen und Zusammenstösse mit Neonazis erlebt, aber noch nie eine derart passive Polizei.

Als der Täter am Samstagnachmittag unseren Protestzug angriff und Heather Heyer tötete, liefen meine Freundin und ich zum Glück auf dem Trottoir. Ich muss mich seither permanent ablenken, um die Bilder von diesem brutalen Angriff aus meinem Kopf zu bekommen.

Nach der Attacke gingen wir umgehend zu meiner Freundin nach Hause, noch komplett unter Schock. Als wir dann von den Solidaritätsbekundungen auf der ganzen Welt hörten, darunter auch einer in Bern, hat uns das wiederaufgerichtet. Wir lassen uns nicht einschüchtern, gehen weiterhin auf die Strasse, um unsere Community zu verteidigen. Der Staat übernimmt das offensichtlich nicht für uns.

Glücklicherweise hatten wir ein eigenes medizinisches Team vor Ort, das umgehend Erste Hilfe leistete, noch bevor die Ambulanz kam. In dieser Hinsicht waren wir gut vorbereitet. Aber sonst? Wir wussten, dass einige Neonazis bewaffnet waren, und dann liefen da auch noch Milizen herum. Faustschläge, Baseballschläger, Schutzschilde oder Pfefferspray – das kannten wir bereits. Aber ein Auto, das in die Menge rast?!

Bisher war ich immer überzeugt, dass unser Widerstand unbewaffnet sein muss. Aber nun bin ich mir da nicht mehr so sicher.»

«Die Gefahr wurde jahrelang unterschätzt»

Spencer Sunshine, Rechtsextremismusforscher

«Da ich die rechtsextreme Szene in den USA seit 25 Jahren beobachte, bin ich mittlerweile einiges gewohnt. Doch so gefährlich – lebensgefährlich – wie am letzten Wochenende war es noch nie. Die ‹Unite the Right›-Kundgebung war nicht einfach ein weiterer Aufmarsch der Alt-Right-Bewegung mit Wutbürgern, fundamentalen Christen und nationalistischen Gruppen, wie sie seit der Wahl von Trump öfter stattfinden. In Charlottesville dominierte erstmals der extrem rechte Flügel: Die Strassen waren voller White Supremacists. Dazu kamen traditionelle rassistische Gruppen aus dem Süden der USA wie der Ku-Klux-Klan. Dieser Flügel wollte beweisen, dass er Leute auf die Strasse bringen kann. Am Ende einer breit angelegten nationalen Mobilisierungskampagne kamen wohl so gegen tausend Teilnehmer nach Charlottesville. Seit Mitte der achtziger Jahre gab es in den USA meines Wissens keinen grösseren faschistischen Aufmarsch.

Ganz anders die Gegenseite: Der antifaschistische Widerstand war praktisch ausschliesslich lokal organisiert. Innerhalb der einzelnen Gruppen ist kaum überregional oder gar national mobilisiert worden. Der Widerstand war zahlenmässig also nur knapp ebenbürtig. Als ich die Gemengelage vor Ort realisierte, dachte ich nur: Shit, wieso stehen da nicht viel mehr Gegendemonstranten?! Das war im Nachhinein ein Fehler. Das Kräfteverhältnis – etwa gleich viele Rechtsradikale und Gegendemonstranten – führte zu chaotischen Situationen und Kämpfen in den Strassen. Das lag aber auch an der Polizei, die bloss herumstand.

Als der Anschlag passierte, stand ich rein zufällig gerade auf dem Trottoir. Wäre ich mitten auf der Strasse gelaufen … Der Fahrer des Wagens marschierte vor seinem Anschlag übrigens bei Vanguard America mit, einer White-Supremacy-Gruppierung.

Krass ist, dass die Gefahr jahrelang sträflich unterschätzt wurde. Bis heute, wo die Alt-Right im Sog von Donald Trumps Wahlsieg von einem Internetphänomen längst zu einer realen Gefahr geworden ist. Stattdessen fahren die Medienkonzerne eine Kampagne gegen die Antifa. Sie würde ihren Teil zur zunehmenden Gewalttätigkeit beitragen, heisst es. Das ärgert mich masslos. Wenn wir den Neonazis die Strasse überlassen, hat das fatale Folgen für People of Color, Juden, die LGBT-Community oder die Linke. Das hat Charlottesville auf tragische Art und Weise gezeigt.»

* Name geändert. Der Mann möchte seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Als aktiver Antifaschist befürchtet er Angriffe von Neonazis, sollte seine Identität bekannt werden.