Zukunft der Arbeit: Die Suche nach Arbeitsplätzen
Die Deregulierung des Arbeitsmarkts gilt seit den siebziger Jahren als Wundermittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Dabei bewirkt sie eher das Gegenteil. Was sind die Alternativen?
Am 6. Oktober 1973, kurz nach Mittag, überflogen 240 ägyptische Kampfflieger den Suezkanal und bombardierten den israelisch besetzten Sinai. Als sich der Westen hinter Israel stellte, hoben die arabischen Herrscher zur Strafe den Ölpreis an und stürzten damit die Welt in eine Wirtschaftskrise, die das Ende der Vollbeschäftigungsjahre einleitete. Zehn Jahre darauf prophezeite der französische Intellektuelle André Gorz, dass uns im Kapitalismus bald die Arbeit ausgehen werde, heute beherrscht die Angst vor Arbeitslosigkeit die Weltagenda.
Was tun? Die Antwort, die sich durchgesetzt hat, wurde einen knappen Monat vor der Ölkrise erstmals in die Welt gesetzt, als sich in Chile General Augusto Pinochet an die Macht putschte und zusammen mit dem Chicagoer Ökonomen Milton Friedman das Land in ein Labor rechter Wirtschaftspolitik verwandelte. Sie räumten dem Kapital sämtliche Steine aus dem Weg, allem voran die Rechte der Arbeitskräfte. 1994 hievte die Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung die Arbeitsmarktpolitik mit dem Bericht «The OECD Jobs Study» auf die globale Bühne. Der Appell: Der Kündigungsschutz gehöre gelockert, die Löhne flexibilisiert. Das schaffe Wachstum. Und Wachstum schaffe wiederum neue Arbeitsplätze.
Auch nach der Finanzkrise 2008, die zum Überdenken wirtschaftsliberaler Dogmen geführt hat, bleibt das Ideal des freien Arbeitsmarkts intakt. In Griechenland, Spanien oder Italien war die Arbeitsreform die dominierende Antwort auf die steigende Arbeitslosigkeit. Aktuell versucht in Frankreich die sozialistische Regierung von Premierminister Manuel Valls, das Arbeitsrecht aufzuweichen. Ein Schritt, der auch von fast allen Medien beklatscht wird. Auf Argumente wartet man jedoch vergeblich. Dabei ist die Sache nicht so einfach.
Eine rationale Strategie?
Die Idee, dass die Deregulierung des Arbeitsmarkts zu mehr Arbeit führt, ist nicht aus der Luft gegriffen. Der technische Fortschritt unterwirft die Wirtschaft einer ständigen Umwälzung. Je flexibler die Arbeitskräfte, desto schneller passen sie sich dieser Umwälzung an, die die Wirtschaft produktiver macht. Damit steigt das Wachstum und mit ihm die Nachfrage nach Arbeitskräften. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter bezeichnete dies einst als «schöpferische Zerstörung». Darf zudem eine Firma tiefere Löhne bezahlen, wird sie möglicherweise zusätzliche (tief qualifizierte) Arbeitskräfte rekrutieren.
Die Geschichte hat jedoch einen Haken. Der technische Fortschritt führt zu immer ungleicherer Verteilung der Einkommen. Denn immer mehr Arbeit wird durch Maschinen ersetzt. Was bleibt, sind gut bezahlte Stellen für Hochqualifizierte. Und schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungsbereich – als Verkäuferin, Putzfrau oder Telefonist. Mit der Deregulierung des Arbeitsmarkts lässt man dieser Entwicklung freien Lauf. Das bewirkt, dass die Nachfrage nach Konsumgütern sinkt: Reiche legen einen Grossteil ihres Einkommens auf die Seite, Ärmeren fehlt das Geld. Die Angst vor einer Kündigung hält sie zusätzlich von Ausgaben ab.
Sinkt die Nachfrage nach Konsumgütern, brauchen die Firmen weniger Arbeitskräfte. Die Arbeitslosigkeit droht zu steigen, statt zu sinken.
Die Regierungen fanden jedoch schnell eine Antwort auf das drohende Problem: Schulden. Zum einen nahmen die Staaten Geld auf und gaben es als Sozialleistungen den Ärmeren weiter, damit diese konsumieren. So sind die Schulden der Industriestaaten unter den sogenannten G20-Ländern seit Mitte der siebziger Jahre von 31 auf 113 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (2012) hochgeschossen. Zum anderen haben die Regierungen den Banken erlaubt, auch Ärmeren Hypotheken und Konsumkredite zu verkaufen. Es war eine Art Privatisierung des Wohlfahrtsstaats.
Die Grenze dieser Politik zeigte sich in der Finanzkrise 2008, als die Schuldenblase zu platzen drohte. Seither versuchen alle, ihre Schulden abzubauen. Die Nachfrage bleibt tief, die Arbeitslosigkeit hoch.
Warum halten also die Regierungen an der Deregulierung des Arbeitsmarkts fest? Unter anderem, weil das Argument der hemmenden Wirkung der Ungleichheit erst langsam im Mainstream ankommt – über Ökonomen wie Joseph Stiglitz. Wichtiger ist jedoch: Im globalen Wettbewerb sind auch linke Regierungen gezwungen mitzuziehen. Zudem hoffen sie, dass sich ihr Land im Wettbewerb durchsetzt und dann möglichst viel exportieren kann. Denn dafür ist es nicht auf den Inlandkonsum angewiesen. Als Vorbild dient Deutschland, wo 2003 der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der «Agenda 2010» den Arbeitsmarkt deregulierte. Darauf schrieb Deutschland immer grössere Exportüberschüsse.
Doch auch hier gibt es einen Haken. Wenn etwa Deutschland weitaus mehr exportiert, als es importiert, muss sich ein anderes Land verschulden, um diese Exporte aufzukaufen. Genau das haben Länder wie Spanien, Griechenland oder Portugal im Vorfeld der Finanzkrise getan. Bis die Blase platzte und auch Deutschland mit in die Krise zog.
Für ein einzelnes Land ist die Deregulierung des Arbeitsmarkts also rational, für die Länder insgesamt jedoch irrational.
Arbeit ohne Lohn
Die Deregulierung des Arbeitsmarkts hat jedoch noch einen weiteren Haken. Der technische Fortschritt führt nicht nur zu immer mehr Ungleichheit, sondern letztlich auch zu Arbeitslosigkeit: Wenn Arbeit durch Maschinen ersetzt wird, bleiben für einige Tiefqualifizierte schlecht bezahlte Jobs, für andere bleiben jedoch gar keine. Die Idee der Deregulierung beruht auf dem Glauben, dass das zusätzliche Wachstum die Nachfrage nach Arbeitskräften genügend erhöht, damit letztlich alle profitieren. Auch jene, denen wegen des Fortschritts Arbeitslosigkeit droht.
Kurz: Die Idee beruht auf der Wette, dass im Rennen zwischen dem Fortschritt und dem Wachstum das Wachstum siegen wird.
Diese Wette erklären jedoch immer mehr ÖkonomInnen für verloren – ganz abgesehen davon, dass die Suche nach immer mehr Wachstum ein ökologischer Irrsinn ist. So hat etwa der US-Ökonom Erik Brynjolfsson gezeigt, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften seit den achtziger Jahren trotz des Wachstums abgenommen hat. Das ist das, was der Philosoph André Gorz bereits 1983 geschrieben hatte: «Die mikroelektronische Revolution leitet das Zeitalter der Arbeitsbeseitigung ein.»
Die BefürworterInnen der Deregulierung, wie die OECD, halten auf dieses Problem eine Antwort parat: mehr Bildung. Hochqualifizierte können Jobs ausüben, die Maschinen nicht leisten können. Steigt zudem die Zahl der Hochqualifizierten, sinkt jene der Tiefqualifizierten, womit deren Lohn (nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage) steigt. Bildung ist sicher wichtig. Doch bisher scheint sie den Trend zu tieferen Löhnen und mehr Arbeitslosigkeit nicht zu stoppen.
Was ist also das Rezept gegen Arbeitslosigkeit? Sollen Regierungen ihre Arbeitsmärkte wieder stärker regulieren? Das wäre zumindest eine Antwort auf das erste Problem: Es würde Nachfrage schaffen, die Firmen würden zusätzliche Stellen schaffen. Ein prominenter Verfechter dieser Position ist der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich, der den Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders portiert. Selbst der eher rechts dominierte Internationale Währungsfonds (IWF) empfiehlt den Regierungen in einer aktuellen Studie, sich mit Arbeitsmarktreformen zurückzuhalten, um das Wachstum nicht abzuwürgen.
Das Problem, dass der Fortschritt Arbeitsplätze vernichtet, wird die Regulierung des Arbeitsmarkts jedoch kaum lösen. Was sind also die Alternativen? Die erste ist die staatliche Umverteilung von Reichtum. Das kann in der Form eines bedingungslosen Grundeinkommens geschehen, wie es eine Initiative fordert, über die Anfang Juni abgestimmt wird. Mit ihm würde ein Teil der jährlichen Wirtschaftsleistung gleichmässig auf alle EinwohnerInnen verteilt. Zudem könnte der Staat mit Steuern etwa Pflegearbeit bezahlen, die heute zum Grossteil gratis geleistet wird. Schliesslich könnten die Vermögen umverteilt werden: Wenn Roboter unsere Arbeit übernehmen, wäre es nur richtig, dass alle Menschen eine Aktie auf einen Roboter besitzen, der ihnen ein Einkommen verschafft.
Die zweite Alternative besteht in der Arbeitszeitverkürzung. Damit würde die Arbeit gleichmässiger auf die Köpfe verteilt. Ausserdem bedeutet ein kleineres Arbeitsangebot höhere Löhne. Seit den achtziger Jahren hat es die Forderung schwer – mit Ausnahmen wie Frankreich, wo 1998 unter dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin die 35-Stunden-Woche eingeführt wurde, die Valls nun mit seiner Arbeitsreform wieder aufheben will. Dabei war die Verkürzung der Arbeitszeit lange die vorherrschende Antwort auf den technischen Fortschritt, der uns immer mehr die Arbeit abnimmt. Seit der industriellen Revolution hat sie sich in ganz Europa etwa halbiert.