Altersvorsorge: Sonst droht die Sozialhilfe

Nr. 36 –

Dass die AHV seit ihrer Einführung von Freisinnigen und Rechtskonservativen permanent angegriffen wird, ist im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert. Das Ausmass ihrer Abbauagenda wurde im vergangenen Sommer sichtbar, als die Rechtsbürgerlichen via nationalrätliche Kommission einen Automatismus in Bundesrat Alain Bersets Vorlage einbauen wollten, der die Erhöhung des Rentenalters zunächst auf 67 Jahre vorsah – und weitere Rentenaltererhöhungen vorbei am Souverän möglich gemacht hätte. Dieser Coup misslang.

Mit Angstmacherei und Missbrauchsdebatten versuchen dieselben Kräfte seit Jahren, sich die Bevölkerung gefügig zu machen, um den radikalen Abbau des Sozialstaats durchzusetzen. Ihre angeblichen Sorgen um das Wohl der Sozialwerke kleiden sie jeweils in eine scheinbar zwingende statistische Logik. Ihre linearen Zukunftsprojektionen sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen.

Seit Einführung des wichtigsten Sozialwerks der Schweiz heisst es mantramässig, dass künftige Generationen wegen der demografischen Entwicklung keine Renten mehr erhalten würden. In den Anfängen der AHV finanzierten 6,5 Arbeitende eine Rentnerin, heute sind es noch 3,5. Die demografische Entwicklung spielt also seit siebzig Jahren, ohne dass die AHV deswegen in finanzielle Schwierigkeiten geraten wäre. Steigende Produktivität, höhere Löhne oder wachsende Zuwanderung halten sie seit Jahrzehnten stabil. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist sie über die Jahrzehnte gleich günstig geblieben. Die wichtigste Sozialversicherung funktioniert mit nur wenigen Finanzierungsretouchen zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. Noch sind die Kassen gut gefüllt.

Dass es jetzt – nach Jahren des Reformstaus, verursacht durch überrissene bürgerliche Abbauvorhaben – wegen der Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge einer Reform bedarf, ist nachvollziehbar. Die Vorlage, über die am 24. September abgestimmt wird, ist eine auf die beiden Säulen AHV und Pensionskassen abgestimmte Lösung, ein Kompromiss, der die Renten auf zehn Jahre hinaus stabilisiert. Die GegnerInnen der Vorlage tun jetzt so, als sei das wegen des Zeithorizonts keine richtige Reform. Sie verschweigen, dass bis zum Reformstau um das Jahr 2010 die AHV im Rhythmus von etwa fünf Jahren reformiert wurde. Die zeitliche Perspektive der Reform entspricht dem Courant normal.

Die Kritik dieser antisozialen Kräfte ist ein Ablenken von den tatsächlichen Absichten: FDP und SVP wollen die AHV schwächen, um tiefere Renten beziehungsweise ein höheres Rentenalter durchzusetzen. Deswegen wollen sie, dass die Vorlage scheitert. Dann würde die AHV rasch aus dem Gleichgewicht geraten. Der Druck stiege, der Weg wäre frei für einen massiven Rückbau der Leistungen.

Die AHV ist allerdings mehr als eine Rentenkasse. Sie ist die grösste und solidarischste Umverteilungsmaschine von oben nach unten. Sie ist die Pièce de Résistance des Schweizer Sozialstaats. Fällt diese Festung, werden die Angriffe auf die übrigen Sozialwerke noch heftiger ausfallen als ohnehin schon. Die Bürgerlichen haben es an der Invalidenversicherung durchexerziert, sie haben ihr Mittel entzogen und Leistungen abgebaut, desgleichen bei der Arbeitslosenversicherung.

Wer keine Versicherungsleistungen mehr erhält, landet in der Sozialhilfe. Und die ist keine Versicherung. Wer Sozialhilfe bezieht, ist der Willkür der Politik ausgesetzt. Wer dort ankommt, wird zum Bürger zweiter Klasse. Die steigenden Sozialhilfekosten setzen Gemeinden und Städte unter Druck. Steigende Sozialhilfekosten erhöhen den Spardruck, und das wiederum ist ein Einfallstor für weitere Kürzungen. Der Kanton Bern führt bereits vor, was das heisst: Dort soll der Grundbedarf in der Sozialhilfe um zehn Prozent gekürzt werden.

Wer die Altersvorsorge 2020 ablehnt, öffnet jenen radikalen Kräften die Tür, die den heutigen Sozialstaat zerschlagen und ein Abhängigkeitsregime installieren möchten, wie man es aus Deutschland und England kennt. Wer hingegen der Vorlage zustimmt, stärkt die AHV und einen stabilen Sozialstaat.