Was weiter geschah: St. Gallen wird linker

Nr. 39 –

Sie sind selten geworden, die Bürgerlichen mit sozialem Gewissen. Solche, die Sätze sagen wie: «Vielen Leuten geht es sehr schlecht, weil sie überhaupt Sozialhilfe benötigen. Sie dürfen in ihrer echten Not nicht auch noch pauschal als Betrüger verdächtigt werden.» So einer war der St. Galler CVP-Stadtrat Nino Cozzio. Mitte September ist er 59-jährig an Krebs gestorben.

Die CVP portierte Boris Tschirky als Nachfolger. Er steht am anderen Ende des Parteispektrums. Seine Meinung zur Sozialhilfe machte er im «St. Galler Tagblatt» klar: «Personen, die unkooperativ sind mit Behörden und Massnahmen verweigern, sollen härter angepackt werden können.» Auch die Plafonierung des motorisierten Privatverkehrs, die St. Gallen 2010 beschlossen hat, will Tschirky rückgängig machen.

Noch vor zehn Jahren wäre die Ersatzwahl glatt über die Bühne gegangen. Eine Stadtregierung ohne CVP – undenkbar. Doch heute ist einiges anders: Die SP hat vor zehn Monaten mit Maria Pappa einen zweiten Sitz im fünfköpfigen Rat erobert. Als letzte grosse Stadt der Schweiz rutscht auch St. Gallen nach links. Tschirky verfehlte das absolute Mehr klar. Und die drei KandidatInnen links der Mitte kamen gemeinsam auf fast gleich viele Stimmen wie Tschirky zusammen mit dem SVP-Kandidaten Jürg Brunner.

Das ist auch dem Wahlkampf des couragierten zwanzigjährigen Jungsozialisten Andri Bösch zu verdanken. Er fordert ein Stimm- und Wahlrecht für alle mit Wohnsitz in St. Gallen, eine autofreie Stadt und «ein Quittungssystem mit Begründung für Polizeikontrollen». Deutlich mehr Stimmen machte allerdings die Grünliberale Sonja Lüthi. Vermutlich wird der zweite Wahlgang am 26. November ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihr und Tschirky. Die 36-jährige Energieexpertin wünscht sich «eine Wirtschaft, die nicht auf Kosten von Mensch und Umwelt funktioniert». Als Mittepolitikerin mit Gewissen wäre sie eine gute Nachfolgerin von Cozzio.

Nachtrag zum Artikel «Bösch versucht das Unmögliche» in WOZ Nr. 38/2017 .