Juso-Stadtratskandidatur: Bösch versucht das Unmögliche
Der zwanzigjährige Andri Bösch will für die Juso in die St. Galler Stadtregierung einziehen. In der Rolle des unterschätzten Aussenseiters läuft er zur Höchstform auf.
Auf dem Weg vom Bahnhof St. Gallen zur Genossenschaftsbeiz Schwarzer Engel kommen wir an einer Polizeikontrolle vorbei. Kurz darauf setzt Andri Bösch ein verschmitztes Lächeln auf: «Ich könnte bald deren Boss sein.» Obwohl das unrealistisch scheint, meint der Zwanzigjährige solche Sätze durchaus ernst. Am Sonntag tritt er für die Juso zur Ersatzwahl für die St. Galler Stadtregierung an. Dann will er der jüngste Stadtrat der Schweiz werden.
Im Garten des «Schwarzen Engels» wird Bösch von jungen Leuten im Vorbeigehen gegrüsst. Das passiere ihm derzeit ständig. «Ich kenne diese Leute gar nicht. Es ist der Wahnsinn, was da gerade passiert.» Vom belächelten Aussenseiter hat sich Bösch in den letzten Wochen zum ernst genommenen Kandidaten gemausert. Ohne Wahlkampfbudget hält er sich im Gespräch, er weckt das Interesse der Jungen für den Wahlkampf, und die Lokalpresse lobt seine starken Auftritte auf Wahlpodien.
Die Möglichkeit zur Kandidatur kam überraschend. Anfang Mai gab Nino Cozzio von der CVP aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt aus der Stadtregierung bekannt. Vor knapp einer Woche ist er seinem Krebsleiden erlegen.
Etwas Grosses wagen
Bevor bekannt wurde, dass ein Sitz in der Stadtregierung frei wird, war eine Kandidatur für den Stadtrat nicht viel mehr als eine Bieridee an Juso-Festen. Es gäbe dafür sogar Vorbilder. 2009 etwa wurde Marco Kistler, der als Erfinder der 1:12-Initiative gilt, mit 24 Jahren überraschend für die SP in die Gemeindeexekutive von Glarus Nord gewählt. Und eben hat die Stadtzürcher Juso bekannt gegeben, dass sie die 22-jährige Nina Hüsser 2018 in den Stadtratswahlkampf schickt. Doch Bösch sagt, er habe sich weder mit den ZürcherInnen abgesprochen noch an Vorbildern orientiert. Stattdessen spürte er die Verlockung, mit der Juso einmal etwas Grösseres zu wagen.
Auch wenn es weiterhin unwahrscheinlich ist: Die Voraussetzungen für die Juso, in St. Gallen tatsächlich in die Regierung einzuziehen, waren nie besser. CVP-Mann Boris Tschirky will den Sitz für seine Partei verteidigen. Doch weil ihm Jürg Brunner von der SVP und Sonja Lüthi von der GLP Stimmen wegnehmen werden, ist ein zweiter Wahlgang sehr wahrscheinlich. Weil die Grüne Ingrid Jacober bisher farblos blieb, hat Bösch viel Raum, um linke Positionen zu präsentieren.
Was hinzukommt: Aus pragmatischen Gründen hat die Mutterpartei Bösch die Unterstützung verwehrt. Um Tschirky zu verhindern, der deutlich rechter politisiert, als Cozzio es tat, empfiehlt die SP die GLP-Kandidatin zur Wahl. Bösch kommt das gelegen: «Es macht mir Spass, etwas zu versuchen, das als unmöglich gilt. Ich geniesse die Rolle des Aussenseiters. Da kann ich sagen, was ich will.»
Leute von der FDP gratulieren
Bösch spielt druckvoll auf. Auf einem Podium liess er die Kritik der Bürgerlichen am städtischen Bussenregime mit der Aussage auflaufen, dieses nerve ihn besonders dann, wenn er im Park gemütlich einen Joint rauche. Oder er ergänzte eine Diskussion um Bürgerbeteiligung mit der Bemerkung, dann solle man endlich auch AusländerInnen an der städtischen Politik beteiligen. «An diesem Abend hatte ich das Hoch meines Lebens», stellt er zufrieden fest. Nach dem Podium hätten ihm auch erstaunte FDPlerInnen gratuliert.
Bösch erzählt diese Dinge mit einer Selbstsicherheit, die angesichts seiner geringen politischen Erfahrung erstaunt. Noch nicht einmal zwei Jahre ist er Mitglied der Juso, erst seit letztem Juni ist er ihr Kantonalpräsident. Bösch hat auch gleich selber eine Erklärung dafür, wem er diese Art zu verdanken hat: der wohlwollenden Erziehung seiner Eltern und den elf Jahren, die er in der Monterana-Privatschule im sankt-gallischen Degersheim verbracht hat. Die von der Pädagogin Maria Montessori und dem Neurobiologen Humberto Maturana inspirierte Pädagogik kennt weder Klassen noch Noten.
Gegen die Unterwerfungsanstalt
In seinem Wahlprogramm nimmt Bildungspolitik eine entscheidende Rolle ein. Darin kritisiert Bösch, der zurzeit die Matura auf dem zweiten Bildungsweg nachholt, den «Totalitarismus im Bildungssystem». «Die Schule ist einer der undemokratischsten Bereiche unserer Gesellschaft, sogar im Knast hast du mehr Rechte.» Die Schule lehre Unterwürfigkeit und zerstöre Kreativität. Daher fordert er eine antiautoritäre Volksschule, die für alle gratis zugänglich ist. Auch wenn es um seine Politisierung geht, kommt Bösch auf die Schule zu sprechen. Nach der Monterana entdeckte er an der Fachmittelschule seinen rebellischen Geist. «Ich habe mich ständig gewehrt, wenn ich etwas ungerecht fand.» Als er achtzehn Jahre alt war, sah er auf einem Podium einen Juso-Vertreter und dachte: «Das will ich auch: vor Leuten sprechen und für eine gerechte Sache kämpfen.»
Andri Bösch sieht seine Kandidatur an sich als politisches Statement. «Mir geht es darum, Sachzwänge zu entlarven, die keine sind», sei es durch sein Alter oder durch teilweise radikale Forderungen wie die nach einer autofreien Stadt oder Urban Citizenship. «Die Juso ist auch da, um visionäre Ideen einzubringen, über die 1:12-Initiative spricht man heute noch.» Für St. Gallen hat er auch schon eine Idee, die er allerdings nicht in der Zeitung lesen will. «Sonst kommt uns Zürich noch zuvor.»
Nachtrag vom 28. September 2017: St. Gallen wird linker
Sie sind selten geworden, die Bürgerlichen mit sozialem Gewissen. Solche, die Sätze sagen wie: «Vielen Leuten geht es sehr schlecht, weil sie überhaupt Sozialhilfe benötigen. Sie dürfen in ihrer echten Not nicht auch noch pauschal als Betrüger verdächtigt werden.» So einer war der St. Galler CVP-Stadtrat Nino Cozzio. Mitte September ist er 59-jährig an Krebs gestorben.
Die CVP portierte Boris Tschirky als Nachfolger. Er steht am anderen Ende des Parteispektrums. Seine Meinung zur Sozialhilfe machte er im «St. Galler Tagblatt» klar: «Personen, die unkooperativ sind mit Behörden und Massnahmen verweigern, sollen härter angepackt werden können.» Auch die Plafonierung des motorisierten Privatverkehrs, die St. Gallen 2010 beschlossen hat, will Tschirky rückgängig machen.
Noch vor zehn Jahren wäre die Ersatzwahl glatt über die Bühne gegangen. Eine Stadtregierung ohne CVP – undenkbar. Doch heute ist einiges anders: Die SP hat vor zehn Monaten mit Maria Pappa einen zweiten Sitz im fünfköpfigen Rat erobert. Als letzte grosse Stadt der Schweiz rutscht auch St. Gallen nach links. Tschirky verfehlte das absolute Mehr klar. Und die drei KandidatInnen links der Mitte kamen gemeinsam auf fast gleich viele Stimmen wie Tschirky zusammen mit dem SVP-Kandidaten Jürg Brunner.
Das ist auch dem Wahlkampf des couragierten zwanzigjährigen Jungsozialisten Andri Bösch zu verdanken. Er fordert ein Stimm- und Wahlrecht für alle mit Wohnsitz in St. Gallen, eine autofreie Stadt und «ein Quittungssystem mit Begründung für Polizeikontrollen». Deutlich mehr Stimmen machte allerdings die Grünliberale Sonja Lüthi. Vermutlich wird der zweite Wahlgang am 26. November ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihr und Tschirky. Die 36-jährige Energieexpertin wünscht sich «eine Wirtschaft, die nicht auf Kosten von Mensch und Umwelt funktioniert». Als Mittepolitikerin mit Gewissen wäre sie eine gute Nachfolgerin von Cozzio.
Bettina Dyttrich