Sans-Papiers: Warten auf grünes Licht
Während Genf seit Anfang des Jahrs zahlreiche Sans-Papiers, die schon lange in der Schweiz wohnen und arbeiten, regularisiert hat, tut sich in der restlichen Schweiz diesbezüglich kaum etwas. Doch wie lebt es sich ohne Papiere in einem der reichsten Länder der Welt? Die WOZ hat zwei Sans-Papiers in ihrem Alltag begleitet.
Herr Honegger
Herr Honegger* sitzt in seiner Wohnung und wartet. Er wartet darauf, dass das Telefon klingelt und ihm jemand einen Job anbietet. Die Glut seiner Zigarette erlischt immer wieder, während er spricht. Er braucht etwa eineinhalb Stunden, um fertig zu rauchen. Er muss sparsam sein. Immer wieder mal kommt es vor, dass er zwei Tage nichts isst. Nur Tee trinkt, mit Würfelzucker. Kaffee kann er sich nicht leisten. Ebenso wenig wie ein Zugticket nach Baden, wo ihm ein Job angeboten worden wäre. Wieder nichts also.
Die Einzimmerwohnung ganz am Rand der Stadt Zürich, in der Herr Honegger wartet, gehört einem befreundeten Holländer. Der arbeitet die meiste Zeit im Welschland, ein- oder zweimal im Monat kommt er zurück, schaut sich die Post an, lässt etwas Essen im Kühlschrank. Danach ist Herr Honegger wieder allein. Mit dem «Taxi Driver»- und dem Bob-Marley-Poster, dem grossen Fernseher und der grossen Terrasse, auf der ein einsamer Kaktus steht. «Seit sieben, acht Jahren ist es sehr schwierig», sagt er. «Ich lebe von der Hand in den Mund. Man ist seelisch eine andere Person, wenn man arbeiten kann.» Er verbringt seine Tage damit, die Wohnung zu putzen oder aufzuräumen, auch wenn es nichts mehr aufzuräumen gibt. Wer nichts zu essen hat, muss auch nicht abwaschen.
Seit mehr als dreissig Jahren lebt Herr Honegger in der Schweiz. Nur kurz war er seither in Mazedonien, seinem Herkunftsland, das er zwar «Dehei» nennt, das ihm aber längst nicht mehr Heimat ist. Doch die Schweiz will es ihm auch nicht sein, denn Herr Honegger ist ein Sans-Papier. Einer von 80 000 oder 200 000 in der ganzen Schweiz, je nach Quelle. Genaue Zahlen sind kaum zu erheben, handelt es sich doch um einen Teil der Bevölkerung, der versteckt lebt.
Das bedeutet jedoch nicht, dass man ihnen nicht begegnet. Sie fahren Tram und Bus, putzen Arztpraxen und Lofts, waschen Teller im Restaurant – oder ziehen Mauern für neue Häuser hoch, wie das Herr Honegger während Jahrzehnten gemacht hat. Gut gemacht hat, wie er betont. Noch heute rufen die Firmen an, für die er früher gearbeitet hat. Und hängen wieder auf, wenn sie hören, dass er noch immer keine Papiere hat. «Ich könnte arbeiten, wenn ich nur dürfte», sagt er. Und immer wieder derselbe Satz: «Ich warte nur auf grünes Licht, dass ich arbeiten kann. Mehr will ich nicht. Auch keinen Schweizer Pass.»
Seit Inkrafttreten des Bundesgesetzes gegen die Schwarzarbeit im Jahr 2008 haben die Kontrollen nicht zuletzt auf Baustellen zugenommen. Die Gewerkschaften, die sich für die Einführung eines solchen Gesetzes starkgemacht hatten, versicherten damals, dass es sich nicht gegen Sans-Papiers richte, sondern die Arbeitgeber in die Pflicht nehme. Für Menschen wie Herrn Honegger jedoch ist es seither noch schwieriger geworden, Arbeit zu finden. Und wenn, dann sind die Arbeitsbedingungen prekär.
«Zürich ist grausam»
Mitte Juni treffen wir uns zum ersten Mal. Anfang des Jahrs hat der Kanton Genf mit seiner «Operation Papyrus» für Aufsehen gesorgt, in deren Rahmen bisher an die 2000 Sans-Papiers regularisiert worden sind. Die Aktion hat bisher kaum Nachahmer gefunden. Auf eine entsprechende Interpellation von drei SP-KantonsrätInnen antwortete der Zürcher Regierungsrat abschlägig. Eine «Operation Papyrus» brauche es in Zürich nicht, es gebe hier viel weniger Sans-Papiers als in Genf. Ausserdem könnten Menschen, die die entsprechenden Kriterien erfüllten, ein Härtefallgesuch stellen. Würde Herr Honegger nicht in Zürich, sondern in Genf leben, wäre er im Februar regularisiert worden. Manchmal überlegt er, ob er jetzt noch nach Genf gehen und Französisch lernen soll. «Zürich ist eine grausame Stadt», sagt er.
Früher hatte er viele FreundInnen hier. Davon zeugen die Referenzschreiben in seinem Härtefallgesuch. «Er ist pünktlich, zuverlässig, hilfsbereit. Er hat die schweizerische Kultur übernommen. Ich wünsche mir, dass er in der CH bleiben kann, er gehört in die CH», schreibt jemand. «‹Honi› war immer fleissig und engagiert. Es macht mich traurig, wenn Personen wie ‹Honi› die Möglichkeit, hier zu leben, verwehrt wird», eine andere. «Dank ihm habe ich Deutsch gelernt und mich in der Schweiz integriert», schreibt sein Mitbewohner, der Holländer. Neben den Referenzschreiben seiner FreundInnen liegen die ausgezeichneten Arbeitszeugnisse diverser Baufirmen und zweier Restaurants bei. Sowie ein Bestätigungsschreiben von einem Hotel, das verspricht, ihn sofort einzustellen, wenn er denn eine Arbeitsbewilligung bekäme.
«Früher kannte ich ganz Zürich», sagt Herr Honegger und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. «Ich war oft im Niederdorf unterwegs, alle kannten mich dort. Doch hier ist man nur integriert, wenn man Geld in der Tasche hat.»
Mitte der achtziger Jahre, mit gerade mal siebzehn, kam Herr Honegger erstmals in die Schweiz. Sein Freund und er hatten eigentlich nach Italien fahren wollen. Dann aber seien sie in Belgrad falsch umgestiegen und in Buchs SG gelandet, erzählt Herr Honegger. Noch am Bahnhof lernten die Freunde einen älteren mazedonischen Herrn kennen, bei dem sie eine Weile unterkamen und der Herrn Honegger, der damals noch anders hiess, seinen ersten Job vermittelte. Ein Job folgte auf den nächsten, und so blieb Herr Honegger in der Schweiz.
Anfang der neunziger Jahre lernte er Frau Honegger kennen, verliebte sich, heiratete sie, nahm ihren Namen an. Ein arbeitsamer, gut integrierter Vorzeigemigrant, der niemandem auf der Tasche lag. Bis Herr Honegger 1998 in U-Haft kommt. Er wird verdächtigt, Teil eines Drogendealerrings zu sein. Herr Honegger möchte nicht darüber reden. «Falsche Freunde», sagt er knapp. Nach einem guten halben Jahr wurde das Verfahren eingestellt, Honegger entlassen. Aber eine Rückkehr in sein altes Leben gab es nicht. Noch während der Zeit in Haft hatten sich Herr und Frau Honegger scheiden lassen. Er behielt ihren Namen, verlor aber seine Aufenthaltsbewilligung. Lieber hätte er auf die 20 000 Franken Wiedergutmachung verzichtet, die der Staat ihm für die Zeit in U-Haft zusprach. Doch Herr Honegger musste die Schweiz verlassen.
1999 kehrte er für kurze Zeit nach Mazedonien zurück, heiratete erneut, seine Jugendliebe, zeugte sein erstes Kind. Schon wenige Monate nach der Geburt kam er wieder in die Schweiz, arbeitete auf Baustellen, als Grilleur in einem Restaurant. Alles schien gut zu gehen. Keiner der Baustellenkontrolleure interessierte sich für den Mann mit dem offenen Gesicht und dem spitzbübischen Lächeln, der Schweizerdeutsch sprach und auf dessen Helm «Honegger» stand.
Knappe achtzehn Franken die Stunde verdiente er für seine Arbeit als Schaler oder Maurer. Nicht viel, aber genug, um hier ein zufriedenes Leben führen und den Unterhalt seiner Familie in Mazedonien bestreiten zu können (mittlerweile war sein zweites Kind auf die Welt gekommen). Bis 2010 lebte Herr Honegger wieder in der Schweiz, seine Familie in Mazedonien besuchte er im Urlaub. Erst 2011 nahm er erstmals die Unterstützung der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (Spaz) in Anspruch. Sein Arbeitgeber hatte ihm in den letzten zehn Jahren zwar immer die AHV-Beiträge vom Lohn abgezogen, aber nicht eingezahlt und zuletzt auch keinen Lohn mehr bezahlt. Gemeinsam mit der Unia ging er vor das Arbeitsgericht, doch das Verfahren wurde als gegenstandslos abgeschrieben. Herr Honegger hatte – wie die meisten Sans-Papiers – keine Lohndokumente, mit denen er eine Anstellung hätte belegen können.
«Ich hätte damals die Schweiz verlassen und mein Glück in einem anderen Land suchen sollen», sagt Herr Honegger, als wir uns das nächste Mal in einem Imbiss an einer stark befahrenen Ausfallstrasse treffen. Doch er blieb und stellte Mitte 2013 ein Härtefallgesuch, das eineinhalb Jahre später abgelehnt wurde. Wieder musste Herr Honegger die Schweiz verlassen. Ausreisefrist: 31. Dezember 2014. Diesmal definitiv. Eigentlich.
Das Leben in Mazedonien erwies sich als schwieriger als früher. «Im Sozialismus gab es Bildung und Gesundheitsversorgung für alle», sagt Herr Honegger. «Ich fand kurze Zeit Arbeit in einem Restaurant, schwarz wie in der Schweiz, doch auch dieser Chef bezahlte den Lohn nicht. Freunde aus der Schweiz schickten mir ein bisschen Geld. Aber es reichte nirgendwo hin.»
Herr Honegger wurde krank, musste am Herzen operiert werden, konnte die Spitalkosten von 600 Euro nicht bezahlen. Monatlich kamen gut 50 Euro für die Medikamente hinzu, über 100 Euro für Strom und Wasser, «und dann hast du noch immer nichts gegessen». Er bewarb sich bei Ecolog, einem Militärdienstleister, der Handwerker, Köche, Wäscher für Truppen nach Afghanistan schickt. «Fast ganz Tetovo ist nach Afghanistan gegangen, weil es in Mazedonien keine Arbeit gibt», sagt Herr Honegger. Doch ihn heuerte man nicht an. Und so kam er diesen Frühling wieder zurück in die Schweiz. Seither wartet er. Auf einen Job. Und auf den Bescheid des Migrationsamts, bei dem er ein neues Härtefallgesuch eingereicht hat mit dem Argument, dass er sich im Herkunftsland nicht wieder habe eingliedern können.
Seit acht Monaten hat er die Miete für die Wohnung seiner Familie nicht mehr bezahlen können. Die Situation belastet das Verhältnis. Seit zwei Monaten hat Herr Honegger keinen Kontakt mehr mit seiner Familie. Er weiss nicht, ob sie noch in derselben Wohnung wohnen, ob sie rausgeschmissen wurden, wo sie jetzt sind.
Schon wieder eine Ablehnung
Mitte Juli treffen wir uns wieder bei der Kalkbreite in Zürich. Herr Honegger hat einen Termin bei der Sans-Papiers-Anlaufstelle. Es geht ihm nicht gut, der heisse Sommer macht seinem Herzen zu schaffen, das ständige Warten seiner Psyche. Er hält die Hand waagrecht an die Nasenwurzel. «Ich habe es bis hier … Ich kann nicht mehr.»
Dann kommt der Berater, der sagt: «Schlechte Nachrichten, Herr Honegger.» Das Wiedererwägungsgesuch für seinen Härtefall wurde abgelehnt. Wieder einmal muss Herr Honegger die Schweiz «unverzüglich» verlassen. Das Migrationsamt sieht keinen Hinweis, dass sich Herr Honegger in Mazedonien nicht mehr integrieren könne. Dass er keine Stelle gefunden habe, sei der wirtschaftlichen Lage in Mazedonien geschuldet. Das sei kein persönlicher Härtefall.
Herr Honegger bleibt ruhig, aber er wird zynisch. Er möchte einen Rekurs machen. «So habe ich noch zwei, drei Monate Zeit, einen Überfall zu planen, bevor ich nach Hause gehe. Im Gefängnis kann man gut leben. Man hat ein Zimmer, dreimal am Tag zu essen. Hier esse ich manchmal den ganzen Tag gar nichts.»
Der Berater gibt ihm die Adresse der Rückkehrberatung. Herr Honegger kennt sie bereits. Der Berater sagt, dass es ihm leidtue. Und dass er vorsichtig sein solle: «Wenn die Polizei Sie erwischt, dann Handschellen und Ausschaffung direkt nach Mazedonien.»
Wir gehen ins Café Lochergut. Die gut gelaunten Hipsterangestellten sind kaum auszuhalten. Draussen regnet es dreimal in dieser halben Stunde, dreimal scheint die Sonne. «Ich war wirklich überrascht», sagt Herr Honegger. «Vor zwei Wochen habe ich beim Roten Kreuz zwei Bulgarinnen getroffen. Ich habe für sie übersetzt. Sie haben eine Arbeitsbewilligung. Einfach weil sie Bulgarinnen sind. Obwohl sie kein Wort Deutsch sprechen.» Das Gespräch stirbt immer wieder ab. Der Neunziger-Jahre-Hit «Freed from Desire» durchbricht unser Schweigen. Es ist Herr Honeggers Handy, das klingelt.
Als wir draussen auf das Tram warten, sagt Herr Honegger: «Was kann ich noch machen? Heiraten? Oder eine Bank überfallen und nur einen Franken verlangen? Dann käme Tele Züri, und ich könnte meine Situation erklären. In Amerika hat das ein Mann gemacht. Die Polizei ist gekommen und das Fernsehen. Vor der Kamera hat der Mann eine Krankenversicherung verlangt. Die Bank hat ihm den Dollar gegeben. Und eine Krankenversicherung.» Herr Honegger steigt ins Tram und fährt davon.
Flor und Cecilia Martinez
Es ist Sommer und heiss an der Zürcher Goldküste. Die Badi ist voll, Kinder rennen herum, spritzen sich mit Wasserpistolen nass, sprechen deutsch, englisch, französisch. Dazwischen auch ein Mädchen und ein Junge, die sich auf Spanisch etwas zurufen. Sie rennen zu einer zierlichen Frau, die im Schatten sitzt, kuscheln sich an sie, bitten in einem Kauderwelsch aus Deutsch und Spanisch um Geld für Süssigkeiten. Sie scheinen wie Bruder und Schwester, nur sehen sie sich überhaupt nicht ähnlich. Er klein, blauäugig, blond, sie gross und dunkelhaarig. Sie sind beide in der Schweiz geboren, zusammen aufgewachsen – und führen doch ein ganz anderes Leben, haben eine ganz andere Zukunft vor sich. Das Mädchen heisst Cecilia* und ist ein Sans-Papiers. Die Frau im Schatten, nennen wir sie Flor Martinez*, ist ihre Mutter und die Kinderfrau des Jungen, den sie in Gesprächen «el niño» nennt.
Auch Flor Martinez lebt ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Als ich sie das erste Mal in der Wohnung ihrer Freundin in einem Zürcher Aussenquartier traf, wartete sie gerade, bis sie ihre Tochter Cecilia aus der Schule holen konnte – um mit ihr nach Kilchberg zu fahren, wo Flor Martinez schon seit zehn Jahren arbeitet. Kurz nachdem sie mit einem Touristenvisum in die Schweiz gekommen war, hatte sie diese Stelle gefunden, als Kinderfrau bei einer Familie, deren erstes Kind kurz zuvor geboren worden war. «Die Mutter fing damals wieder an zu arbeiten. Sie war zuerst etwas skeptisch mir gegenüber und wollte es nur mal drei Monate mit mir ausprobieren», erzählt Martinez. «Aus den drei Monaten sind zehn Jahre geworden. Und der Kleine ist schon gross. Eigentlich braucht er keine Kinderfrau mehr – so putze ich jetzt das Haus und bügle die Wäsche. Ich bin froh, dass sie mich behalten, obwohl sie mich nicht mehr brauchen.»
Seit zehn Jahren fährt sie von Montag bis Freitag mit der S-Bahn nach Kilchberg; ist die Familie in den Ferien, füttert sie das Meerschweinchen. Nur einmal, nach Cecilias Geburt vor acht Jahren, machte sie zwei Monate Pause. Von Anfang an konnte sie ihre Tochter mit zur Arbeit nehmen, die beiden Kinder wuchsen zusammen auf, Spanisch ist die zweite Muttersprache von «el niño». Das Verhältnis zur Familie ist gut, man vertraut sich. Einen Arbeitsvertrag hat Flor Martinez dennoch nicht. Nach einigen Jahren hatte sich ihre Arbeitgeberin einmal vorsichtig bei der Gemeinde erkundigt, wie sie eine Hausangestellte in die Schweiz holen könnte, um Flor Martinez so einen legalen Aufenthalt zu verschaffen. Auf der Gemeinde riet man ihr davon ab. Zu viel Papierkram und zu kompliziert. Sie solle jemanden anstellen, der schon hier sei.
1600 Franken pro Monat verdient Flor Martinez für ihre Arbeit an der Goldküste, Abzüge für Sozialleistungen werden keine gemacht. «Das ist für eine papierlose Hausangestellte fast schon ein guter Lohn», sagt Bea Schwager von der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (Spaz). Viele ihrer Klientinnen verdienen für dieselbe Arbeit noch weniger. Martinez sagt, sie komme gerade über die Runden. Von ihrem Lohn bezahlt sie die Miete, die Krankenkassen, ihren Lebensunterhalt, den ihrer Tochter und ihrer drei weiteren Kinder in Ecuador.
«Unsere Situation»
Cecilia ist Flor Martinez’ viertes Kind. Die älteste Tochter ist zwanzig, arbeitet als Putzfrau und kümmert sich um die jüngeren Geschwister. Der Vater, zu dem Flor Martinez kaum Kontakt hat, lebt alleine auf dem Land. «Arbeiten war noch nie sein Ding», sagt sie. Die jüngste Tochter in Ecuador ist zwölf. Nur ein Jahr nach der Geburt liess Flor Martinez sie zurück, um in der Schweiz zu arbeiten. Auch in Ecuador hat sie als Putzfrau und Kindermädchen gearbeitet. Seit ihrem 15. Lebensjahr. Doch das Geld reichte nirgendwo hin. Eine Freundin, die schon in der Schweiz war, lieh ihr das Geld für ein Flugticket. Seither hat sie ihre anderen drei Kinder nicht mehr gesehen. Ihr fliessen die Tränen über die Wangen, als sie davon erzählt. Es ist das einzige Mal, dass ich sie weinen sehe.
Bei den weiteren Treffen ist Cecilia immer dabei. Ein vergnügtes achtjähriges Mädchen, das bald in die zweite Klasse kommt, gerne Schabernack treibt, mit ihren Schulfreundinnen eine Disco veranstalten will – und nicht versteht, warum sie nicht mit der Familie ihres besten Freundes in die Ferien fahren kann. Sie weiss noch nicht Bescheid über «unsere Situation», wie es Flor Martinez immer nennt. Ihren leiblichen Vater hat Cecilia nie kennengelernt: einen Mexikaner, den Martinez kennenlernte, als er in der Schweiz weilte. Nach seinem dritten Besuch war Martinez schwanger. Sie sagte es ihm – und hörte nie wieder etwas von ihm.
Ausser einer Geburtsurkunde hat Cecilia keine Papiere, die ecuadorianische Botschaft stellt in der Schweiz keine Pässe aus. Nur ein Laissez-passer für den Fall einer Ausschaffung. Sie kann zur Schule gehen, aber das Land nicht verlassen. Vielleicht kann sie irgendwann einmal eine Lehre machen, eine Aufenthaltsbewilligung wird sie aber selbst dann nur erhalten, wenn sie danach gleich eine Stelle findet. Dabei ist Cecilia ein Schweizer Kind. Wenn Martinez sie beim Mittagessen ermahnt, das Essen gut zu kauen, anstatt es mit Wasser runterzuspülen, sagt Cecilia: «Ich esse wie die Schweizer. Yo no soy de Ecuador – ich komme ja nicht aus Ecuador.» Wenn sie im Wartezimmer der Schulzahnklinik laut aus dem «Barbapapa»-Buch vorliest, ist ihr Zürcher Akzent nicht zu überhören. Auf Zürideutsch verspricht sie dem Zahnarzt auch, ihre Zähne öfter zu putzen. Denn dieser hat gar keine Freude. Zehn Löcher hat Cecilia in den Zähnen. Alles auf einmal zu flicken, würde 3000 Franken kosten. Zwei Monatslöhne. Martinez wird dreimal gefragt, ob sie von der Sozialhilfe unterstützt werde. Martinez verneint dreimal, sie zahlt alle Rechnungen selbst. Cecilia und sie haben zwar eine Kranken-, aber keine Zahnversicherung. Der Zahnarzt schlägt eine schrittweise Behandlung mit Ratenzahlung vor. Dann ermahnt er Cecilia, in den Ferien am Strand nach dem Glace gleich einen Zahnputzkaugummi zu kauen. «Wir fahren dieses Jahr nicht weg», sagt Martinez. Und weiss, dass sie auch nächstes Jahr nicht wegfahren werden. Und auch übernächstes nicht.
Zu dritt auf dem Sofa schlafen
Papierlos zu sein, bedeutet nicht, dass man keinen Papierkram zu erledigen hätte. Ihre Post holt Martinez bei einer Freundin oder bei der Spaz ab. Krankenversicherungsrechnungen, Hortanmeldungen, Schulunterlagen – und neu auch einen Arbeitsvertrag. Seit kurzem hat sie eine neue Stelle. Jeden Mittwochvormittag putzt sie die Wohnung des Freundes der Schwester einer Freundin. Der Mann ist Zahnarzt und hat angeboten, Cecilias Zähne gratis zu flicken. Und er hat einen Arbeitsvertrag nach Vorlage der Spaz aufgesetzt und unterschrieben. Martinez verdient bei ihm 400 Franken pro Monat, brutto, erstmals werden Abzüge für AHV, ALV und Quellensteuer gemacht. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie je AHV beziehen können wird. Geschweige denn Arbeitslosengeld. Auch Bea Schwager von der Spaz ist kein solcher Fall bekannt. Die meisten Sans-Papiers, die das Rentenalter erreichen, haben nie Beiträge eingezahlt und arbeiten einfach weiter. Nur wenn Martinez die Schweiz verlasse, könne sie sich die einbezahlten Beiträge auszahlen lassen. Oder Martinez wird regularisiert. In Genf hätte sie wohl ebenfalls von der «Operation Papyrus» profitiert. Hier wird ihr geraten, noch ein paar Jahre zu warten, bis Cecilia älter und noch besser «integriert» sei. Dann könnte man ein Härtefallgesuch für Cecilia stellen. Würde dieses bewilligt, hätte auch Flor Martinez gewisse Chancen, regularisiert zu werden.
Bis dahin werden Flor und Cecilia Martinez versuchen, sich im öffentlichen Raum möglichst unauffällig zu bewegen. Eine Unachtsamkeit – ein vergessenes Busbillett oder bei Rot über die Strasse zu fahren – kann verhängnisvoll sein. «Wer ohne Aufenthaltsbewilligung von der Polizei erwischt wird, wird oft binnen weniger Tage ausgeschafft», weiss Schwager. Ohne ein gutes Netzwerk kommt man in der Schweiz ohne Papiere langfristig nicht weit. Immer wieder erzählt Flor Martinez von «una amiga», die ihr geholfen habe. Eine davon, eine ältere Frau aus Kolumbien, lebt schon seit über zwanzig Jahren in der Schweiz und hat eine C-Bewilligung. Flor Martinez und Cecilia wohnen mit ihr gemeinsam in einer Einzimmerwohnung, zu dritt schlafen sie auf einem Ausziehsofa, schon seit Cecilia ganz klein ist. Zwischendurch hatten sie einmal in Aarau gewohnt, bei Martinez’ damaligem Freund, einem Schweizer, den Cecilia Papi nannte. Doch als die Beziehung in die Brüche ging, zogen sie wieder zurück nach Zürich in die Einzimmerwohnung. Eine eigene Wohnung mieten kann Martinez nicht. Anders als sie bezahlen viele Sans-Papiers horrende Mietpreise für ihre Zimmer, weil sie aufgrund ihrer prekären rechtlichen Situation erpressbar sind. «Es scheint so, als hätte ich viele Freundinnen», sagt Martinez, als wir an der Bushaltestelle warten, um zu ihr nach Hause zu fahren. «Aber am Ende sind es immer die gleichen drei Leute, die mich unterstützen.»
* Namen geändert.