Zum Zustand der Gegenwart: Ungleich geht die Welt zugrunde
Wer die Gegenwart verstehen will, werfe einen Blick in den «Weltreport über Ungleichheit». Eine internationale ForscherInnengruppe um den französischen Ökonomen Thomas Piketty warnt darin vor politischen und sozialen Katastrophen. Dabei sind diese längst im Gang.
1913 kommunizierte noch niemand über soziale Medien. Es gab kein Internet und auch keinen Onlineversandhandel, der die KundInnen frei Haus mit hübschen Konsumartikeln beliefert hätte. Schon damals aber gab es den Kapitalismus, und dieser brachte beispielsweise das Deutsche Kaiserreich in eine unheilvolle gesellschaftliche Schieflage: 1913 gingen ganze vierzig Prozent des nationalen Gesamteinkommens an das reichste Zehntel der Deutschen – ein Zahlenverhältnis, das nicht nur für HistorikerInnen interessant ist.
Heute nämlich ist die soziale Kluft in Deutschland wieder genauso gross wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Dies geht aus dem ersten «Weltreport über Ungleichheit» hervor, den eine ForscherInnengruppe um den französischen Ökonomen Thomas Piketty vergangene Woche publiziert hat. Im Bericht belegen die WissenschaftlerInnen mit Unmengen an Datenmaterial (das auf der Website «wid.world» der Öffentlichkeit zur Verfügung steht), dass die materielle Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten weltweit rasant zugenommen hat. Wobei in der Bundesrepublik und den anderen europäischen Ländern noch vergleichsweise harmlose Zustände herrschen.
Weitaus extremer gestalten sich Piketty und Co. zufolge die Verhältnisse in den autoritär regierten Staaten China und Russland – sowie in den USA. In den Vereinigten Staaten verdoppelte das reichste eine Prozent seit 1980 seinen Anteil am nationalen Gesamteinkommen von zwanzig auf vierzig Prozent. Und in den kommenden Jahren wird sich die Entwicklung dort noch weiter zuspitzen, begünstigt von der Steuerreform, die Präsident Donald Trump jüngst auf den Weg gebracht hat. Sie stellt ein gewaltiges Umverteilungsprojekt von unten nach oben dar.
Explosive Situation
Aber auch unabhängig von Trump kündigt sich im allgemeinen Trend Verheerendes an. Setzt sich dieser nämlich den vergangenen vier Jahrzehnten entsprechend fort, werden im Jahr 2050 die reichsten 0,1 Prozent der Menschheit mehr als ein Viertel des Weltvermögens besitzen. Dabei leben selbst im reichen Norden jetzt schon immer mehr Menschen in prekären Verhältnissen. Die ÖkonomInnen warnen im «Weltreport» daher, dass die steigende Ungleichheit zu «sozialen und politischen Katastrophen» führen werde.
Tatsächlich sind diese schon längst im Gang, wie allein die Erinnerung an 2016, das Jahr des Brexit-Votums und des Wahlsiegs des rechten Volkstribuns Trump, vor Augen führt. Die liberalen Demokratien sowohl in den USA als auch in Europa sind bedrohlich ins Wanken geraten, was die internationale Situation zunehmend explosiv macht.
Krise der liberalen Demokratie
So ist es bezeichnend für diese bedrohliche Entwicklung, dass nur zwei Tage nach der Veröffentlichung des Piketty-Berichts eine neue Rechtsaussenregierung in Wien den erfolgreichen Abschluss ihrer Koalitionsverhandlungen verkündete. Und gleichzeitig kamen einige Hundert Kilometer weiter nordwestlich in Prag Europas Rechtsnationale – unter ihnen die Französin Marine Le Pen und der Niederländer Geert Wilders – zusammen, um ihr gemeinsames politisches Vorhaben, die Zerschlagung der Europäischen Union, zu koordinieren. Die Krise im Globalen Norden äussert sich gleichermassen in der Zunahme sozialer Ungleichheit und dem Vormarsch der autoritären Rechten: Es sind zwei Seiten derselben Medaille.
Dass die AutorInnen des «Weltreports» als Startpunkt ihrer Untersuchung das Jahr 1980 gewählt haben, ist kein Zufall. Ende der siebziger Jahre begann der internationale Siegeszug des Neoliberalismus und damit der Rückbau der Sozialstaaten, die in den westlichen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg für materiellen Ausgleich zwischen den Klassen und damit für politische Stabilität sorgen sollten.
Legitimiert wurde dieser wirtschaftspolitische Richtungswechsel unter anderem mit dem Argument, dass von Steuersenkungen für Kapital und Vermögende letztlich alle etwas hätten, weil dies Wachstum und damit neuen Reichtum generiere, der mittelfristig von oben nach unten durchsickern würde. Eine bis heute gängige, aber dennoch falsche Behauptung, wie der «Weltreport» eindrücklich belegt.
Gleichzeitig setzte damals der Verfall demokratischer Institutionen ein. Durch die politisch vorangetriebene Liberalisierung der Märkte konnte sich das Kapital leichter über Landesgrenzen hinweg bewegen – und der Wettbewerb machte die Nationalstaaten erpressbar. In der Konsequenz wurde der Demos («Staatsvolk») unter Verweis auf ökonomische Sachzwänge zunehmend entmachtet. Offenkundig schuf genau diese Konstellation die Bedingungen, unter denen die RechtspopulistInnen ihren Siegeszug antreten konnten.
Die Gewalt des besseren Arguments
Dass von der wachsenden Ungleichheit und der demokratischen Repräsentationskrise vor allem autoritäre und nicht linke Bewegungen profitieren, zeigt auf, dass es der Rechten gelungen ist, mit einer Gegenwartsbeschreibung Gehör zu finden, die die sozialen Widersprüche externalisiert: Die Front verläuft dann nicht zwischen «oben» und «unten», sondern zwischen «drinnen» und «draussen», also zwischen der eigenen, «nationalen Gemeinschaft» und dem «Fremden».
All das ist hinlänglich bekannt. Bemerkenswert ist daher vor allem, dass sich die fortwährende Debatte über Nationalismus und Rechtspopulismus nicht gerade dadurch auszeichnet, dass deren materielle Ursachen thematisiert würden. Nimmt man etwa die medialen Diskussionen der vergangenen Monate als Referenz, lag deren Schwerpunkt vielmehr auf der Frage, wie genau denn nun mit den auf einmal allerorten präsenten Rechten geredet werden müsse.
Dahinter steht die Annahme, dass den PopulistInnen der Wind aus den Segeln genommen werden könne, indem man sie nicht moralisch ausgrenze und dadurch zu politischen Underdogs adle. Stattdessen müsse man die offene Auseinandersetzung mit ihnen suchen. Am Ende, so das Kalkül, werde sich die sanfte Gewalt des besseren Arguments durchsetzen und dem reaktionären Spuk ein Ende bereiten.
Populistische Obsessionen
Gegen diese Sichtweise spricht nicht nur die Tatsache, dass die obsessive öffentliche Beachtung rechtspopulistischer Botschaften deren WortführerInnen offenkundig in die Hände spielt. Denn darüber hinaus beruht sie auf dem Irrglauben, dass es allein schon die richtige Diskurspolitik irgendwie richten werde.
Reaktionäre Bewegungen fussen aber nicht einfach auf Denkfehlern. Dass es den Autoritären nämlich gelingt, eine Gesellschaft zu polarisieren, hat vielmehr den einfachen Grund, dass diese tatsächlich sozialen Sprengstoff birgt. «Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen», schrieb der Philosoph Max Horkheimer Ende der dreissiger Jahre. Der Satz hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren.
Dennoch herrscht ein beinahe schon pathologischer Widerwillen, diesen Zusammenhang zur Sprache zu bringen. Und genau das verschiebt das politische Koordinatensystem insgesamt nach rechts.
Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte eben erst der amtierende deutsche Aussenminister Sigmar Gabriel. Vor ein paar Tagen veröffentlichte der SPD-Politiker im «Spiegel» einen Gastbeitrag, in dem er zunächst jovial zugesteht, dass Forderungen nach Umverteilung «zwar durchaus ihre Berechtigung» hätten. Im selben Atemzug hält er dann jedoch fest: «Im Kern geht es aber um eine kulturelle Haltung und um Fragen nach Identität.» Deswegen möchte der Sozialdemokrat Gabriel fortan auch über «Heimat» und «Leitkultur» sprechen dürfen.
Auf den Punkt gebracht soll das wohl heissen: Ausbeutung und Armut mögen vielleicht ärgerlich sein, in Wahrheit aber kommt es auf die gefühlte Bedrohung der eigenen Identität an. Statt von den Attacken zu sprechen, die seit Jahrzehnten von oben gegen unten geführt werden, führt die Reise geradewegs in Richtung «Kampf der Kulturen». Und so geht die empirisch messbare Wirklichkeit dann ganz allmählich in den Wahn über.