Thomas Piketty: Radikal reformistisch

Nr. 46 –

In seinem neuen Buch «Eine kurze Geschichte der Gleichheit» erinnert Thomas Piketty daran, wie der Kapitalismus einst gebändigt wurde. An diese sozialdemokratische Erfolgsgeschichte lässt sich anknüpfen, argumentiert der französische Ökonom.

Thomas Piketty ist inzwischen eine Art internationaler Popstar. 2013 erschien sein Buch über das «Kapital im 21. Jahrhundert», 2019 folgte «Kapital und Ideologie». Der erste Wälzer ist über 800, der zweite über 1300 Seiten lang. Trotzdem wurden es Bestseller.

Das neue Werk des französischen Ökonomen ist viel dünner – aber nicht weniger ehrgeizig. Piketty will kompakt die Geschichte des modernen Kapitalismus als langsamen, aber unaufhaltsamen Siegeszug der sozialen und ökonomischen Gleichheit darstellen. Es geht um die grossen Transformationen, die auf lange Sicht die Struktur des Kapitalismus umgemodelt haben. Und um die Konturen eines anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems: die konkrete Utopie eines demokratischen, ökologischen, dezentralen Sozialismus.

Progressive Steuern sollen die soziale Ungleichheit ganz erheblich reduzieren.

Im deutschsprachigen Raum war Piketty lange ein Unbekannter – ein Ökonom, der über Jahre empirische Forschung betrieben hatte, ohne auf viel Resonanz zu stossen. Im neuen Buch beschreibt er die Forschungstradition, aus der er kommt und die er fortführen will. Dazu zählt die «École des Annales», eine Schule der Geschichtsschreibung, die schon früh Wirtschafts- mit Sozial- und Politikgeschichte verknüpfte. Und auch die Tradition der klassischen politischen Ökonomie, ein wenig auch die marxistische Tradition, obwohl Piketty kein Marx-Kenner ist.

Die grossen Umbrüche

Methodisch bezieht Piketty eine Vermittlerposition: Was gesellschaftliche Entwicklungen angeht, sind Konflikte, Kämpfe, Kräfteverhältnisse oft entscheidend, aber Institutionen, Regelwerke, Arrangements, Einstellungen und Überzeugungen nicht weniger wichtig. Es geht ihm um historische Erklärungen dafür, wie und durch welche Umbrüche sich der gegenwärtige Kapitalismus herausgebildet hat.

Einige zentrale Thesen in diesem Buch werden bei manchen linken Leser:innen auf Skepsis stossen. So etwa diejenige, dass über einige Jahrhunderte hinweg betrachtet ein Abbau von sozialer, ökonomischer und politischer Ungleichheit festzustellen sei. Piketty stellt deshalb die Gesamtentwicklung als eine «Geschichte der Gleichheit» dar. Allerdings ist diese noch lange nicht zu Ende, weitere Fortschritte hin zu mehr Gleichheit sind notwendig.

Piketty ist nicht nur hochgelobt, sondern auch heftig kritisiert worden. Ihm wurde vorgeworfen, keinen klaren Begriff von Kapital zu haben und alle möglichen Formen des Reichtums in den einen Topf des «Vermögens» zu werfen. Im neuen Buch nimmt er verschiedene Eigentumsformen differenziert in den Blick. Vor allem solche, die Macht über das Leben anderer verschaffen, wie das Eigentum an Produktionsmitteln oder Wohnraum. Beides führt zu Abhängigkeitsverhältnissen, ebenso wie der Zugang zu politischer Macht und das Eigentum an Ressourcen in anderen Weltteilen.

Staatsschulden und Kolonialbesitz sind hier die beiden Hauptformen von Eigentum. Das hätte man gern noch differenzierter, vor allem im Blick auf die heute dominanten Formen des Finanzkapitals, in denen alle Formen des Eigentums zusammengebracht werden. Zweifellos gibt der Besitz von Staatsanleihen den Staatsgläubigern Macht, insbesondere dann, wenn Finanzinvestoren wie Blackrock Pakete von Staatsanleihen vieler Länder besitzen und mit diesen ganze Regierungen in den Ruin treiben können.

Das Ende der Boni

Wie in seinem Buch «Kapital und Ideologie» plädiert Piketty hier für eine neue, demokratische und ökologische Form des Sozialismus. Diese sei möglich, weil schon eine frühere «Systemtransformation des Kapitalismus» den Weg gezeigt habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch den Auf- und Ausbau des Sozialstaats, durch ein progressives Steuersystem mit heute fast unvorstellbar hohen Spitzensteuersätzen von achtzig bis neunzig Prozent auf hohe und höchste Einkommen und Vermögen sowie durch die grosszügige Streichung von Staatsschulden die bestehende soziale Ungleichheit ganz erheblich reduziert. Was wir Neoliberalismus nennen, begann in den Siebzigern als heftige Gegenbewegung zum Sozialstaat und zu den progressiven Steuern. Dies hat zum erneuten Anwachsen der Ungleichheit geführt, während über dem Siegeszug neoliberaler Ideologien der Strukturwandel in Vergessenheit geraten ist, der davor eine lange Prosperitätsperiode des Kapitalismus ermöglicht hat.

Piketty will überzeugen, dass es möglich ist, wieder an die Erfolgsgeschichte des gebändigten Kapitalismus anzuknüpfen. Dazu müsse man ein Narrativ des radikalen Reformismus rekonstruieren. So bemüht er sich um den Nachweis, dass progressive Steuern auf Einkommen und Vermögen die soziale Ungleichheit ganz erheblich reduzieren können. Sehr hohe Steuersätze wirken schon dadurch auf die Verteilungsstruktur, dass sich exorbitante Bonus- oder Dividendenzahlungen nicht mehr lohnen, weil sie weggesteuert werden. Also werden sie nicht mehr gezahlt.

Setzte die alte sozialistische und kommunistische Linke auf Staatseigentum und zentralisierte Planwirtschaft, plädiert Piketty für ein anderes Programm, das bekannte und wirksame Mittel zur drastischen Reduzierung der Ungleichheit nutzt. Dazu gehören etwa eine Beschäftigungsgarantie für alle, ein Grundeinkommen, dazu öffentlich finanzierte Gemeingüter wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Sozialwohnungen oder Pflege. Und auch eine Art Erbschaft für alle, in Höhe von einigen Zehntausend Franken, ausbezahlt vom Staat beim Vollenden des 21. Lebensjahrs, kann man dazu zählen. Energie, Verkehr, Erziehung, Kultur, Gesundheit sollen und können dem Markt entzogen werden. Pikettys Programm eines demokratischen Sozialismus setzt auf viele machbare Einzelreformen. Im Kern geht es ihm um ein gut sozialdemokratisches Programm der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, ergänzt um einiges, was heute noch als utopisch gilt.

Mitbestimmen und selbst verwalten

Nationale Sozialstaaten sind im Kontext einer globalisierten Wirtschaft ebenso unmöglich wie nationale Sozialismen. Es braucht also eine neue Weltwirtschaftsordnung, in der die früheren und die heutigen Formen des Kolonialismus überwunden werden. Es liegt nahe, an die Europäische Union zu denken, wenn man eine transnationale Sozial- und Steuerpolitik anstrebt. Und es liegt nahe, neue und erweiterte Formen der politischen Demokratie, national wie international, anzustreben, wenn man die Macht des grossen Geldes über die Demokratie brechen will. Wenn man die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit und das Alltagsleben der Beschäftigten aufheben will, muss man die Machtstruktur von Unternehmen verändern, braucht also neue Formen von Mitbestimmung und Selbstverwaltung. Nicht nur in den Betrieben, auch auf Gemeindeebene. All das deutet der Autor in diesem Buch nur an.

Piketty bemüht sich, seinen radikalen Reformismus auch denjenigen schmackhaft zu machen, die mit der sozialdemokratischen Idee institutioneller Reformen wenig anfangen können. Auch der Kampf für gleiche Rechte und gegen Diskriminierungen aller Art kann auf die Dauer nur Erfolg haben, wenn er mit einem konkreten Programm institutioneller Reformen verbunden wird.

Buchcover von «Eine kurze Geschichte der Gleichheit»

Thomas Piketty: «Eine kurze Geschichte der Gleichheit». Verlag C. H. Beck. München 2022. 264 Seiten. 38 Franken.