Fernando Birri (1925–2017): Er träumte mit offenen Augen

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Der argentinische Cineast Fernando Birri war ein Wegbereiter des militanten Kinos in Lateinamerika. In seinem Denken waren Träume und Utopien zentral.

Wer Fernando Birri einmal gesehen hat, wird den 1925 im argentinischen Santa Fé geborenen Künstler nicht mehr vergessen: mit seinem schlohweissen Bart und seinem kahl rasierten Schädel, aus dem die listig lächelnden schwarzen Augen hervorstachen. Gekleidet meist in lange, weisse Gewänder, hatte seine Erscheinung etwas von einem Guru. «Er sah irgendwie erleuchtet aus und schien wie nicht ganz von dieser Welt, wenn er, meist begleitet von ganz jungen Studierenden, durch die Gänge oder den Park der Filmschule von San Antonio de los Baños spazierte», erinnert sich eine Studentin.

Die Ausbildungsstätte, dreissig Kilometer westlich der kubanischen Hauptstadt Havanna gelegen, war zu einem wichtigen Teil Fernando Birris Werk geworden. Zusammen mit Gabriel García Márquez, dem kolumbianischen Literaturnobelpreisträger und Freund Fidel Castros, hatte Birri Ende 1986 die Escuela Internacional de Cine y Televisión (EICTV) in San Antonio de los Baños mitbegründet.

Während der ersten fünf Jahre war er auch Leiter dieser audiovisuellen Ausbildungsstätte, die weit über Lateinamerika hinaus Ausstrahlungskraft hatte. Filmschaffende wie etwa der Spanier Benito Zambrano («Habana Blues»), die Ecuadorianerin Tania Hermida («Qué tan lejos») oder die Venezolanerin Mariana Rondón («Pelo malo») gingen daraus hervor.

Orte des Austauschs

Fernando Birri hatte zur Zeit der Gründung der EICTV schon reichlich Erfahrung als Regisseur wie auch bei der Schaffung von Orten des Austauschs von Ideen und der Kreation im audiovisuellen Bereich. Nach einem Filmstudium in Rom bei den Gründervätern des Neorealismus, Roberto Rossellini, Vittorio De Sica und Luchino Visconti, schuf er 1956 in seiner Heimatstadt Santa Fé die Escuela documental. Dies in einer Epoche, als es in ganz Lateinamerika keine Filmschulen gab. Die Escuela documental trat mit der Prämisse an, Studierende müssten das «Bewusstsein der sozialen Realität ihrer Völker erlangen und davon Zeugnis ablegen».

Damals entstand der Dokumentarfilm «Tire dié» («Wirf ’nen Groschen»), den Birri selbst als «gefilmte Sozialstudie» bezeichnete. Anhand eines Zuges, der im Schritttempo über eine lange Brücke in einem Elendsviertel seiner Heimatstadt Santa Fé fährt, thematisierte er die Ungerechtigkeit in Lateinamerika. Der viel beachtete Film wurde von einem «Manifest für ein nationales, realistisches und kritisches Kino» begleitet. Das Werk gilt zusammen mit dem im gleichen Jahr entstandenen Dokumentarfilm «El mégano» der beiden Kubaner Julio García Espinosa und Tomás Gutierrez Alea als Geburtsstunde eines militanten Kinos in Lateinamerika. Heute steht es für das neue lateinamerikanische Kino.

Nach «Tire dié» legte Birri in den folgenden Jahren mit dem satirischen Animationsfilm «La verdadera historia de la primera fundación de Buenos Aires» und der chaplinesken Komödie «Los inundados» («Die Überfluteten») nach. Damit gewann er in Venedig 1962 den Preis für das beste Erstlingswerk.

Phantasmagorie mit Terence Hill

Birri bewies schon damals seine ungeheure Vielseitigkeit und den Willen, sich nie auf einen bestimmten Stil oder ein Genre festzulegen. Während der Militärdiktatur in Argentinien ging er 1963 ins Exil, erst nach Brasilien, kurz darauf nach Italien. Dort begann er 1967 mit der Arbeit an einem Werk, das elf Jahre in Anspruch nahm: dem experimentellen «Nichtfilm» (Birri) namens «ORG»: In der dreistündigen Phantasmagorie spielte Terence Hill die Hauptrolle, dieser finanzierte den Film auch mit. Er geniesst bis heute unter Fans von Experimentalfilmen Kultstatus. Der Film wurde 1978 in Venedig uraufgeführt und an der letztjährigen Berlinale in einer restaurierten Kopie neu präsentiert.

Am besten charakterisiert vielleicht «Un señor muy viejo con unas alas enormes» den unfassbaren Utopisten des Kinos: Birri spielt darin selbst diesen alten Herrn mit enormen Flügeln. «Art never sleeps» (Kunst schläft nie) hatte einst Francis Ford Coppola in der EICTV an eine Wand gesprayt – und Birri setzte kurz darauf die Ergänzung darunter: «Aber sie träumt mit offenen Augen.»

Überhaupt waren Träume und Utopien in Birris Denken stets zentral. Eine Begegnung 2010 am Filmfestival Innsbruck, an dem Birri mit einer Retrospektive geehrt wurde, bleibt mir selbst unvergessen. Ich konfrontierte ihn im Gespräch mit dem Einwand, Utopien hätten bei den Versuchen ihrer Verwirklichung doch eigentlich stets katastrophal geendet. Freundlich und ganz ohne Groll antwortete Birri: «Wahrscheinlich hast du ja recht, aber für mich sind Utopien der Grund dafür, dass ich immer weitergehe.»

Fernando Birri starb am 27. Dezember in Rom. Die Direktion des Filmfestivals in Havanna, an dem eben ein italienischer Dokumentarfilm über Birri Premiere feierte, schreibt zu seinem Tod: «Fernando Birri ist fort, er ging auf einen Spaziergang mit der Utopie. Auf der Erde liess er die Augen und die Ohren, die Lust zu träumen und zu leben.»

Der Dokumentarfilm «Storia probabile di un angelo: Fernando Birri» von Domenico Lucchini und Paolo Taggi wird im Verlauf dieses Jahres auch in den Schweizer Kinos zu sehen sein.