Film: «Als Schauspielerin bist du immer Blicken ausgesetzt»
Die Schauspielerinnen Sabine Timoteo und Doro Müggler sprechen über die Lust am Spiel, über Vertrauen und Machtmissbrauch am Filmset – und wie sie gelernt haben, Nein zu sagen.
WOZ: Sabine Timoteo, Doro Müggler, Sie haben zusammen den Film «Sag mir nicht, du kannst nicht singen» gemacht. Bisher waren Sie als Schauspielerinnen in sehr unterschiedlichen Projekten unterwegs. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Doro Müggler: Der Filmemacher Paul Riniker hat uns vor acht Jahren in seinem Film «Sommervögel» als Schwestern besetzt. Nach dem Dreh ist eine Freundschaft entstanden.
Sabine Timoteo: Allerdings gab es viel früher mal eine Begegnung in der Badi, ungefähr 2004. Wir hatten beide kleine Kinder, da kam Doro auf mich zu und sagte: «Ich weiss, du bist Schauspielerin, ich im Fall auch.» Ich wollte damals das Private und das Berufliche voneinander trennen, deshalb war ich eher unfreundlich und wollte lieber nichts von ihr wissen.
Sabine Timoteo, nachdem Sie in über fünfzig Filmen als Schauspielerin gespielt haben, führen Sie nun zum ersten Mal Regie. Warum?
Timoteo: Für mich bedeutet Arbeit Forschung. Ich bin sehr gwundrig, und wenn ich die Möglichkeit habe, neue Räume zu entdecken, dann tue ich das. Ausserdem fotografiere und filme ich für mich schon länger. Doro hat ganz klar die Lust formuliert, einen Film zu machen, wir haben uns diesen Raum genommen und einen Film realisiert.
Müggler: Die Idee zur Zusammenarbeit kam so vor etwa sieben Jahren. Wir haben in einem leeren Raum in Sabines Wohnung gesagt: «So, wir fangen an.» Es war nicht das Ziel, am Ende ein Produkt zu haben.
Timoteo: Es ist nicht so, dass ich einen Film gemacht habe. Wir haben zusammen zu arbeiten begonnen, und was daraus entstanden ist, das zeigen wir nun. Ganz wichtig war bei der Arbeit das gegenseitige Vertrauen – das ist überhaupt die Basis jeglichen Zusammenarbeitens.
Ist dieses gegenseitige Vertrauen in jedem Theater- oder Filmprojekt möglich?
Timoteo: Nein, natürlich nicht. Und es gibt auch ganz viel Vertrauensmissbräuche.
Müggler: Als Schauspielerin bist du immer Blicken ausgeliefert. Dabei geht es stets darum, wer wie auf dich schaut. Es geht stets um diesen Blick und um die Haltung dahinter. Wenn du vorne stehst, sei es bei einem Casting, bei einer Probe, bei einer Vorstellung oder einem Dreh auf einem Set – du wirst immer angeschaut.
Timoteo: Du stellst dich als Schauspielerin diesem Blick zur Verfügung, bist ihm ausgeliefert. Über all die Jahre habe ich mir angeeignet, dass ich den ganzen Prozess umkehre. Wenn ich an ein Casting gehe, sage ich, dass ich schauen gehe, was da auf mich zukommt und ob es mich interessiert. Denn ich habe ja Augen, ich bin kein Stück Fleisch. Natürlich ist das auch schwierig, weil das automatisch viele Projekte ausschliesst – was aber auch gut ist.
Haben Sie schon oft Nein gesagt?
Timoteo: Ja! Es gab viel mehr Neins in meiner Karriere als Jas. Ich merke stets sofort, ob ich mitmache oder nicht.
Woran?
Timoteo: Doro hat mich das auch oft gefragt.
Müggler: Du sagst, du spürst das, ob eine Beziehung mit dem Gegenüber entsteht oder nicht. Das weisst du einfach. Ich selber kenne allerdings auch die Situation, dass ich das Gefühl zwar habe, dass es nicht gut kommt, aber es nicht zulasse, aus verschiedenen Gründen: Ich brauche Geld, ich will spielen, ich stelle mein Gefühl infrage, ich sage mir, das Projekt ist so interessant, dass ich darüber hinwegschaue, dass mir die Menschen dahinter nicht ganz passen. Aber eigentlich kann man sich auf dieses Gefühl verlassen. Trotzdem bin ich Zusammenarbeiten eingegangen, von denen ich eigentlich gewusst hatte, dass ich hätte Nein sagen sollen. Oder ich habe meine Bedingungen nicht genug klar gemacht, wie ich arbeiten möchte …
Timoteo: Ich weiss einfach, wenn ich bei Projekten zusage, zu denen ich nicht stehen kann, kostet mich das viel zu viel Kraft. Spiel ohne Lust ist kein Spiel mehr, dann ist es ein Zwang oder ein Chnorz. Dafür habe ich den Drang zu wenig, unbedingt zu spielen, egal unter welchen Bedingungen. Da würde ich lieber aufhören. Deshalb wähle ich die Projekte ganz sorgfältig aus, das hat mich vor vielem geschützt.
Nach der Harvey-Weinstein-Affäre sind auch aus der Film- und Theaterbranche in Deutschland und Österreich Missbrauchsvorwürfe gegen Regisseure publik gemacht geworden. Haben Sie diese Vorwürfe überrascht?
Müggler: Nein, überhaupt nicht. Am meisten beschäftigt mich, dass alle diese Frauen, und ich schliesse mich da gleich mit ein, nichts gesagt haben, als es passiert ist, oder wenigstens kurz darauf. Das ist für mich das Entscheidende am Ganzen: Was ist denn das für ein System, dass die Frauen – und ebenso die Männer – so lange schweigen?
Timoteo: Es ist das Machtsystem. Man hat Angst. Denn um als Schauspielerin das zu sein, was man sein will, muss man offenbar einen Preis bezahlen, nämlich das «Füdle härehäbe». Obwohl dieser Preis nicht zu zahlen wäre, denkt man, es gehöre dazu. Als Frau ist man es so gewohnt, sich anzupassen, dem Bild zu entsprechen, das von einem erwartet wird. Das lernt man ja schon als kleines Mädchen. Ich habe die Fotos der Berlinale von den Schauspielerinnen auf dem roten Teppich angeschaut. Nix gegen diese Frauen in ihren schicken Kleidern, aber die wenigsten fühlen sich darin wohl. Natürlich gibt es jene, die es auch geniessen, und das ist auch okay …
Ich ging ja damals so (zeigt auf ihre blaue Hose und die Wanderschuhe, die sie trägt) über den roten Teppich an der Berlinale. Mich hat man gar nicht gesehen. Wenn du als Frau nicht wie eine Puppe angezogen bist, bist du kein wichtiger Mensch.
Man muss damit umgehen können, nicht gesehen zu werden. Als Schauspielerin will man doch gesehen werden.
Timoteo: Ich will nicht auf einem roten Teppich gesehen werden, sondern in den Filmen. Aber um nochmals auf die Übergriffe zurückzukommen: Ich finde es sehr wichtig, nicht zu generalisieren. Die sexuellen Übergriffe sind Einzelfälle, die man spezifisch anschauen müsste. Aber der Machtmissbrauch innerhalb der Branche …
Müggler: … ist kein Einzelfall.
Timoteo: Das ist das Überthema: der Machtmissbrauch.
Müggler: Und die Selbstverständlichkeit dieses Machtmissbrauchs. Es ist einfach selbstverständlich, dass er stattfindet. Wenn ich als Schauspielerin Fragen stelle, sind die männlichen Regisseure oft höchst verunsichert und fühlen sich gleich infrage gestellt. Dabei stelle ich ja eine Frage, um in einen Austausch zu kommen.
Timoteo: Allerdings muss man relativieren: Regie ist klar eine Machtposition – aber es gibt auch Frauen, die ihre Macht ausnutzen, nicht nur Männer. Und überhaupt spielen Frauen diese Machtspiele mit, weil sie zu den Mächtigen gehören wollen. Man kann auch anders, aber dann hat man diese Art von Karriere nicht.
Ein Filmemacher sagte mir mal, es sei einfach wahnsinnig schade, eigentlich wäre ich ein Star geworden, wenn ich nicht immer in Low-Budget-Autorenfilmen mitgemacht hätte. Und es fehle mir die totale Hingabe. Er meinte damit, dass ich mehr geben sollte auf allen Ebenen. Mehr Ja sagen. Er hat mir vorgeworfen, dass ich an die Premiere seines Films in einem Pyjamaoberteil gekommen sei. Dabei war es ein total schönes Oberteil! Es hat immer auch damit zu tun, sich zu verkaufen. Und das bedeutet halt immer auch Brüste und Hintern und geschminkte Lippen.
Doro: Ich habe schon sehr früh begonnen, über Geld zu reden. Das ist vielleicht ein bisschen ein anderes Thema, aber es hat ganz viel mit den Machtstrukturen und dem Missbrauch zu tun. Ich habe über Gagen geredet, darüber, was meine Arbeit wert ist, selbst wenn ich es nicht durfte. Gemeinsam mit drei Frauen haben wir es übrigens geschafft, dass es in freien Theaterprojekten offizielle Richtgagen gibt.
Als Schauspielerin kommt man beim Spielen anderen sehr nah, auch körperlich. Wie grenzt man sich privat davon ab? Oder, anders gefragt, wie merkt man, wie weit man beruflich gehen kann, ohne dass man die eigenen Grenzen überschreitet?
Timoteo: Ich habe das auf die ganz brutale Art gelernt. In meinem ersten Film spielte ich eine Prostituierte. Der Regisseur hat Männer von der Strasse geholt, damit sie mit mir die Sexszenen spielen. Ich war zwanzig Jahre alt, unter mir lag ein Typ mit einem Ständer, der am liebsten gleich in mich eingedrungen wäre, und alles wurde gefilmt. Ich wusste: Wenn ich das jetzt abbreche, müssen wir es einfach nochmals drehen. Der Regisseur hatte hier die totale Macht über die Situation. Er war auch der Produzent. Es soll keine Anschuldigung sein, doch es war ein völlig verantwortungsloses Verhalten dieses Regisseurs – und ein Unwissen auf meiner Seite. Das hat er natürlich ausgenutzt, das ist ja logisch. Es hätte an ihm gelegen, die Grenzen zu setzen. Oder an mir, Stopp zu sagen. Durch solche Erfahrungen habe ich gelernt, was für mich drin liegt und was eben nicht.
Müggler: Mir ist das auch passiert. Bei einem Filmdreh habe ich Dinge gemacht, die ich eigentlich nicht machen wollte. Ich habe die Grenzen nicht gesetzt, und der Regisseur nutzte das aus. Ich habe mich dann im Nachhinein davon distanziert, aber das war schon heavy.
Timoteo: Es passiert aus Unerfahrenheit. Mit dem Alter und mit der Erfahrung lernt man besser, die eigenen Grenzen zu setzen, wenn es einem zu weit geht.
Sie betonen beide, Sie hätten die Grenzen nicht gesetzt, als ob Sie die Schuld am übergriffigen Verhalten tragen würden …
Timoteo: Soll ich mal was sagen? Ich hatte in diesem Film einen Hund. Es gab eine Szene, in der der Protagonist einen Wolfspelz anhat. Ich wusste, wenn der Pelz nass wird, greift der Hund ihn an. Dann ist das passiert. Der Hund hat während des Drehs den Schauspieler angegriffen. Dieser hat ihm einen Tschutt gegeben, der Hund konnte anschliessend nicht mehr richtig laufen. Da habe ich mich gewehrt. Das heisst nicht für mich, sondern für den Hund, der noch wehrloser war als ich, weil er ein Tier ist und gar keine Sprache hat.
Müggler: Man kann für jemand anderen besser hinstehen als für sich selbst.
Timoteo: Man lernt von klein auf zu gefallen. Das ist ein Punkt. Je mehr man gefällt, umso mehr gefällt man den eigenen Eltern. Punkt. Das habe ich auch gelernt. Und das ist brutal gefährlich.
Müggler: Ich habe das auch sehr verinnerlicht: Wenn man nicht macht, was den Eltern gefällt, gibt es Liebesentzug. Das nimmt man mit.
Doro Müggler, Sie haben eine Schauspielschule besucht. Wird man da nicht auf die Realität vorbereitet, die eine junge Schauspielerin erwartet?
Müggler: Nein, dort hocken ja dieselben Typen. Ein kleines Beispiel: Ich war an meinem Diplom schwanger. Da hat ein Lehrer zu mir gesagt: «In dich haben wir auch falsch investiert. Du wirst nicht wieder spielen.» Zwei Jahre später hatte ich ein bisschen ein Bäuchlein, da sagte er zu mir in einer Vorstellung: «Na, legst du noch was nach?»
Timoteo: Erzähl noch das andere mit dem Bauch. Sie spielt in einem Film die Mutter eines Zwanzigjährigen.
Müggler: Beim Dreh haben die meinen Bauch gesehen und entschieden, dass der nicht so sein darf. Allerdings traute sich die Kostümassistentin nicht, mir das zu sagen. Bis schliesslich der Maskenbildner kam und meinte: «Du, sie trauen sich nicht, es dir zu sagen, aber du solltest deinen Bauch einziehen.»
Timoteo: Als sie mir das erzählte, sagte ich ihr: «Du kannst doch nicht mit einem eingezogenen Bauch spielen, das kannst du gar nicht.» Aber du warst verunsichert.
Müggler: Ja, logisch war ich verunsichert. Ich fand es auch so komisch, dass man findet, der Bauch darf nicht sein, du musst ihn einziehen, aber man traut sich nicht, es mir zu sagen, weil es mich ja beleidigen könnte … Das war eine ganz schräge Situation. Es geht ja darum, dass man als Frau einem ganz bestimmten Bild entsprechen muss. Man wird dauernd danach bewertet. Und selber macht man das auch. Diese ständige Selbstbewertung führt zu einem Selbsthass.
Timoteo: Ich benutze in Filmen mein Nacktsein auch als Statement oder als Waffe, denn mein Körper entspricht nicht dem sogenannten Ideal, aber ich zeige ihn. Einmal hatte ich eine ganz kleine Rolle als lesbische Frau. Ich lag mit meiner Partnerin im Bett, es klingelte an der Tür. Im Drehbuch stand, die beiden Frauen seien am Lesen. Während des Drehs entschied der Regisseur plötzlich, dass ich nackt sein müsse, weil die beiden gerade Sex gehabt hätten. Allerdings hätte ich die Unterhose anbehalten müssen. Da erklärte ich: «Entweder ganz nackt oder mit T-Shirt und Unterhose.» Ich wusste, im Fernsehen würden sie es nie zeigen, dort gibt es nur Brüste zu sehen, aber keine Schamhaare oder Schamlippen. Ich hab dann extra alles so richtig gezeigt, und sie haben das Material nicht gebraucht. Man kann es also auch umkehren.
Kommen wir nochmals auf die Missbräuche zurück. Wie wichtig sind für Sie in diesem Zusammenhang Debatten, wie sie die #MeToo-Welle ausgelöst hat?
Timoteo: Ich habe solch allgemeine Überbegriffe wie «#MeToo» nicht so gerne.
Müggler: Ich auch nicht … So eine Empörungswelle kann auch heikel sein.
Timoteo: Es ist ja auch eine Denunziationswelle. Davor habe ich Angst. Ich finde es auch nicht richtig, im Nachhinein zu denunzieren. Aggression ist nicht der richtige Weg. Man müsste im Moment die Verantwortung übernehmen für das, was ist, was man will und was man braucht. Das ist das, was ich jeder Einzelnen wünschen würde. Auch mir selber. Ich kann das ja selber auch nicht immer, aber ich lerne es. Das Schlimme ist ja, dass du als Frau – oder als Mensch – immer auch Teil von diesem Missbrauch bist.
Müggler: Man lädt eine Verantwortung auf sich, indem man Sachen zulässt. Das ist total unangenehm, und da gibt es auch die Scham.
Timoteo: Man lässt sich missbrauchen. Und das ist das, was grusig ist: Es wird einem etwas angetan, und man lässt es zu. Man ist immer aktiver Teil davon. Man ist nicht nur Opfer.
Müggler: Achtung – als erwachsene Frau! Nicht als Kind.
Timoteo: Ich habe als Kind Missbrauch erlebt, und ich habe nach wie vor das Gefühl, ich sei schuld. Das ist ja das Schlimme. Und man ist Teil davon. Denn auch als Kind kann man Nein sagen. Allerdings muss man als Kind gelernt haben, Nein zu sagen. Die Missbräuche haben auch ganz arge Nebenwirkungen. Weil man sich nicht respektiert, bekommt man Aggressionen sich selber gegenüber. Und davon spricht ja auch unser Film. Wie lebst du weiter, wenn du Sachen zugelassen hast, die du eigentlich nicht möchtest? Wie lebst du mit diesem Selbsthass?
Müggler: Dieses Nein ist ganz zentral. Wenn du nicht Nein sagen kannst, kennst du auch das Ja nicht.
Sie haben selber auch Kinder, bringen Sie ihnen dieses Nein bei?
Timoteo: Oh ja! Und meine beiden Mädis, die sind siebzehn und neunzehn, die können Nein sagen, und wie. Sie können auch Ja sagen (lacht).
Die Film- und Theaterbranche ist ja nun nicht gerade eine kinderfreundliche Welt. Wie haben Sie es damals geschafft, als junge Mütter Rollen zu bekommen und regelmässig weiterzuarbeiten?
Müggler: Ich habe meinen Sohn verschwiegen, als er klein war. Ich habe bei den Proben nie gesagt, ich muss nach Hause, weil mein Kind zu Hause ist. Denn ich hatte Angst, dass man mich nicht mehr engagiert. Heute, fünfzehn Jahre später, sagen Männer, mit denen ich zusammenarbeite, es ist 17 Uhr, ich gehe mein Kind abholen. Oder: Mittwoch ist mein Kindertag, dann kann ich nicht proben. Da denke ich: Wow, warum habe ich das nicht so gemacht? Ich hatte solche Angst, dass man mir vorwerfen würde, ich sei schlecht organisiert.
Timoteo: Es ist eine komplette Überlastung für Mütter, gleichzeitig zu arbeiten, ihren Job zu machen, Mutter zu sein …
Müggler: … gesund zu bleiben, schön zu bleiben.
Timoteo: Eine komplette Überforderung. Und ich habe keine Ahnung, wie ich das damals gemacht habe. Ich hätte die Energie nicht mehr. Ich hatte die Kinder auf dem Set dabei und hatte jemanden angestellt fürs Hüten. Ich hatte Glück, dass gewisse Produktionen diese Kosten übernahmen. Später, als sie in den Kindergarten kamen, habe ich meine Mutter angestellt und sie bezahlt, denn ich wollte die Mädchen nicht mehr aus ihrem Leben reissen.
Sie sind nun beide Anfang vierzig. Viele Schauspielerinnen haben in diesem Alter Angst, dass ihnen die Rollen ausgehen könnten. Kennen Sie das auch?
Müggler: Wir sind in der Mitte des Lebens, das empfinde ich als unheimlich bereichernd. Ich fühle mich nicht mehr als junge Frau, und das ist gut. Dass ich merke, ich bin eine reife, gestandene und erwachsene Frau, macht etwas mit mir. Damit, wie ich durchs Leben gehe. Und ich wäre nicht da, wo ich jetzt bin, wenn ich nicht so viele Fragen gestellt hätte. Interessanterweise läuft es bei mir auch mit den Rollenangeboten sehr gut. Und zwar, ohne dass ich mich irgendwo anbieten gehe. Als junge Schauspielerin dachte ich, man müsse zeigen, dass man da ist, und sich anbieten, damit man Rollen bekomme. Nicht dass ich es je wirklich gemacht habe, aber ich dachte das. Und jetzt, da ich das nicht mehr denke, kommen die Filmrollen. Das ist doch interessant.
Timoteo: Ich würde auf keinen Fall zurückwollen. Diese Phase, in der ich lebe, ist liebevoller denn je. Auch die Angebote sind nicht ausgeblieben. Ich habe das Gefühl, es kommen immer spannendere Projekte, und ich werde als Mensch, als Person mehr wahrgenommen denn je. Ausserdem entlastet es mich, dass die anzügliche Komponente von den Männern mittlerweile wegfällt, das macht mich freier. Und das Schönste ist, dass wir nun ernten können, was wir gesät haben – im Privaten wie im Beruf. Und dass wir uns trauen, uns den Raum zu nehmen und zu sagen: «Wir haben einen Film gemacht und zeigen euch den.»
Ein Experiment
«Wie kann man etwas erklären, das man selber nicht versteht?», fragt sich Claire. Sie erhebt sich vom Küchentisch, lässt Mann, Kind und Katze zurück und macht sich mitten in der Nacht auf den Weg, um zu verstehen.
«Sag mir nicht, du kannst nicht singen» ist ein Experiment. Eines, das verstört, irritiert, aber auch beglückt. Claire (Doro Müggler) wandelt durch die Nacht auf der Suche nach ihrer Zwillingsschwester Carla, die allerdings auch sie selber sein könnte. Dabei gibt es wunderbare Szenen und stimmige dramaturgische Ideen: die Gespräche am Bahnhof in Biel, die Claire mit PassantInnen führt, die aus dem Off erzählte Geschichte eines Missbrauchs oder die schwarz abgedeckten Gesichter rund um Claire – sogar jenes der Katze – bis zu dem Moment, in dem Claire auf- und ausbricht.
Es braucht Geduld, um sich auf den Film einzulassen, den Doro Müggler und Sabine Timoteo gemeinsam mit Xavier Michel, Stefan Schischkanov, Leo Matkovic und Kaspar Kilchenmann realisiert haben, aber diese lohnt sich.
«Sag mir nicht, du kannst nicht singen» in Zürich, Kino Riffraff, Donnerstag, 8. März 2018, 21 Uhr; in Bern, Kino Rex, Freitag, 9. März 2018, 22.30 Uhr. Beide Vorführungen in Anwesenheit der MacherInnen.
Timoteo und Müggler
Sabine Timoteo (42) spielte nach einer Tanzausbildung und einem Engagement bei Heinz Spoerli und Carlotta Ikeda im Film «L’amour, l’argent, l’amour» (2000) die Hauptrolle. Nach einer Kochlehre kehrte sie als Filmschauspielerin zurück. Timoteo hat in über fünfzig Produktionen mitgespielt, unter anderem in Filmen von Christian Petzold, Pipilotti Rist oder Michael Glawogger. Für ihre Rollen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Zurzeit ist Timoteo in Wilfried Meichtrys «Bis ans Ende der Träume» und in «Das Ächzen der Asche» von Clemens Klopfenstein zu sehen.
Doro Müggler (44) studierte nach einem Jurastudium und einer Ausbildung zur Buchhändlerin Schauspiel an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie ist Mitgründerin der Theatergruppe Weltalm und hat in diversen Schweizer Kino- und Fernsehfilmen mitgespielt, unter anderen von Christof Schertenleib und Peter Luisi. Dieses Jahr hat Müggler das Off-Stage-Stipendium der Stadt Bern erhalten. Im Kino ist sie zurzeit im Spielfilm «Mario» von Marcel Gisler zu sehen.