Roberto Saviano: Unter einem Regime der Angst

Nr. 9 –

Roberto Saviano schreibt sein Lebensthema fort, diesmal in Form eines Romans: In «Der Clan der Kinder» geht er der Frage nach, wie die Camorra Jugendliche für die Mafia begeistern kann.

Einige prominente KlientInnen fehlen beim rauschenden Fest, das der Anwalt zum Examen seines Sohns gibt. Sie sind, wie ein Spassvogel durch den Saal ruft, «im Urlaub» – hinter Gittern. Aber nicht lange, verspricht der Mann des Gesetzes: «Wir werden sie hierher zurückbringen, denn ich verteidige nur Unschuldige.» Schallendes Gelächter: Avvocato Caiazzo arbeitet als Rechtsbeistand für etliche Familien der Camorra. Seine launige Ansprache ist eine der wenigen halbwegs lustigen Stellen in Roberto Savianos erstem Roman «Der Clan der Kinder».

Das kann auch gar nicht anders sein, denn das Buch behandelt Savianos Lebensthema: die Camorra, die neapolitanische Mafia. Nach der Veröffentlichung seines Welterfolgs «Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra», der 2006 im italienischen Original erschien und 2008 verfilmt wurde, erhielt er massive Morddrohungen. Seitdem lebt er unter Polizeischutz und muss immer wieder den Aufenthaltsort wechseln.

Reifeprüfung Mord

Saviano, 1979 in Neapel geboren, bewegt vor allem die Frage, wie die skrupellosen Männer an der Spitze der diversen konkurrierenden Familien zu Idolen von Kindern werden konnten. Die oft vertretene These, soziale Not und Perspektivlosigkeit treibe den Clans den Nachwuchs regelrecht zu, ist höchstens die halbe Wahrheit. In Savianos Roman sind es eher Kinder der Mittelschicht, die den Bossen nacheifern. Das gilt besonders für den fünfzehnjährigen Protagonisten, Nicolas Fiorillo, Kampfname Maraja. Der Vater ist Lehrer, die Mutter Schneiderin. Sein Taschengeld bessert Nicolas mit dem Verkauf weicher Drogen auf. Aber er will mehr, viel mehr: die kriminellen Machtverhältnisse in Neapel aufmischen – an der Spitze einer eigenen Gang, einer Paranza. Das ist, wie Saviano ganz am Anfang erklärt, «ein Boot, das Fische mit Licht in die Falle lockt».

Um an Land Beute zu machen, braucht es kein Licht, sondern Macht. Diese beruht auf der Angst der anderen vor der Gewalt. Mord wird zu einer Art Reifeprüfung. Um ernst genommen zu werden, muss der angehende Anführer jemanden töten – «ein Stück machen», wie es in der zynischen Sprache der Camorra heisst. Schiessübungen machen Fiorillo und die übrigen zehn Paranza-Mitglieder mitten in Neapel, vom Dach eines Hauses aus, während auf einer Geburtstagsparty nebenan ein Feuerwerk die Schüsse übertönt. Geschossen wird auf Satellitenschüsseln, eine Katze, später auch auf Menschen – am besten schwarze Menschen ohne Papiere.

Nicht nur sie gelten dem Camorrista als minderwertig – in seiner Vorstellungswelt teilt sich die Menschheit in «Verarscher und Gearschte». Er will zu Ersteren gehören, «sich niemandem beugen», vor allem aber Macht über andere ausüben: «Er genoss den Anblick eingeschüchterter Menschen.» Das klingt primitiv und nach roher Gewalt, lässt sich aber auch philosophisch begründen – mit Machiavelli, den der begabte und belesene Nicolas in der Schule in seinem Sinne paraphrasiert: «Wer Fürst sein muss, scheisst drauf, ob er geliebt wird, denn sie lieben dich nur, solange alles gutgeht, sobald was schiefläuft, lassen sie dich sofort hängen. Es ist besser, im Ruf eines Meisters der Grausamkeit zu stehen als des Mitleids.»

Waffenlager bei den Pinguinen

Mit dieser Theorie lässt sich fast alles rechtfertigen. Auch Schutzgelderpressung auf Spielplätzen – gegen das Versprechen an die verängstigten Mütter, man werde die Romakinder von dort vertreiben. Dass diese zuvor extra angeheuert wurden, können die bereitwillig Zahlenden ja nicht wissen.

Aber das sind nur Nebengeschäfte. Um wirklich gross zu werden, muss die Paranza Stadtteile erobern. Gebiete, die von anderen beherrscht werden, aber manchmal, wenn der dortige Capo ins Gefängnis muss, wie Niemandsland erscheinen. Ausserhalb des eigenen Gebiets gibt es keine Bewegungsfreiheit. Wer sich dorthin begibt, um Geschäfte zu machen, gerät in Lebensgefahr.

Nicolas und seine Getreuen schreckt das nicht, und entsprechend prosperiert ihr Unternehmen. Der wachsende Reichtum beruht auf Schutzgelderpressung, Drogenhandel und Raub. Er dient dem Konsum – man trinkt mit Vorliebe Champagner –, aber vor allem der Expansion. «Wir holen uns Toledo», verkündet Vincenzo alias Lollipop; die Via Toledo ist die auch bei TouristInnen beliebte Einkaufsstrasse an der Piazza Dante. «Alle müssen gelb vor Angst werden!»

Das Geschäft läuft, weil sich alle Beteiligten an die Regeln halten. Diejenigen, die das Heroin beschaffen und zu den Umschlagplätzen bringen, sind blosse Verwalter ihrer Ware in einer besonderen «Form von seelenlosem Kapitalismus», wie Saviano erklärend hinzufügt.

Nicht nur an dieser Stelle übernimmt der gelernte Journalist den Platz des Romanautors. Viele Details aus dem kriminellen Alltag, die Saviano schildert, wirken wie Klischees, sind aber offensichtlich authentisch, etwa die Begeisterung der Heranwachsenden für Waffen und für einschlägige Serien und Spielfilme. Selbst Savianos Anti-Camorra-Film «Gomorrha» schätzen die Nachwuchsgangster: um Mimik, Gesten und Tonfall der Camorristi kopieren zu lernen. Zu abgedreht, um erfunden zu sein, ist die Episode, in der die Jugendlichen mitten in der Nacht eine Waffenlieferung entgegennehmen: «Das grösste Waffenlager, das sie je gesehen hatten», befindet sich im Zoo auf der Südseite, im Gehege der Pinguine.

Modernisierung scheitert

Ähnlich grotesk, vor allem aber ziemlich altmodisch erscheinen rituelle Bräuche, die den Erfolg der Bande garantieren sollen. So schliessen die Mitglieder bei Gründung der Paranza Blutsbrüderschaft und deklamieren auswendig gelernte Texte, die ebenfalls aus Filmen stammen. Danach gehen sie in die Kirche, um der Madonna eine riesige Kerze zu weihen. Dass Auftragsmord und Christentum sich nicht gegenseitig ausschliessen, glaubt auch der jugendliche Killer, der vor seiner Tat für göttlichen Beistand betet. Er tut nur seine Pflicht, während ein vermeintlicher Verräter einer harten Strafe entgegensieht – zur Abschreckung. Das Regime der Angst funktioniert auch in den eigenen Reihen.

Weniger erfolgreich ist das Projekt einer reformierten Camorra, das Nicolas verfolgt: Er «verstand das Spiel in sämtlichen Nuancen. Er verstand, dass hinter allem immer diese Sache mit dem Blut steckte, die Zugehörigkeit, das Schmutzige und das Saubere. (…) Wer entscheidet, was sauber ist? Das Blut, immer nur das Blut. (…) Nicolas war mit diesen Dingen aufgewachsen (…), aber er wollte den Mut haben, zu behaupten, dass dieses System veraltet war. Und überwunden werden musste. Der Feind deines Feindes ist dein Verbündeter, unabhängig vom Blut und von Verwandtschaften. Wenn er, um der zu werden, der er werden wollte, den lieben musste, den zu hassen man ihn gelehrt hatte, gut, er würde es tun. Scheiss auf das Blut. Camorra 2.0.»

Das Modernisierungsprojekt aber scheitert – zumindest in diesem Roman. Sein dramatisches Ende ist vorhersehbar und zugleich offen. Dass Saviano ihn fortschreibt, ist wahrscheinlich. Und zu hoffen.

Roberto Saviano: Der Clan der Kinder. Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag. München 2018. 414 Seiten. 35 Franken