Literatur: Die Einsamkeit des Mutigen

Nr. 28 –

Eine Romanbiografie wie ein Krimi: In «Falcone» erzählt der italienische Autor Roberto Saviano vom Leben und Sterben des berühmtesten Mafiajägers.

«Dieser Roman erzählt eine wahre Geschichte», schreibt Roberto Saviano im Vorspann seines Buchs, «alle auftretenden Personen hat es wirklich gegeben. […] All das ist gewesen.» Diese Beteuerungen sind bedeutsam, weil vieles von dem, was Saviano von den ruchlosen Verbrechen der sizilianischen Mafia Cosa Nostra und deren Infiltration der italienischen Institutionen schreibt, schier unwahrscheinlich wirkt. «Jede Szene», so der Autor, «ist ein Ausschnitt des Dramas eines ganzen Landes, wo die Wahrheit so verzerrt ist, dass sie die kühnsten Phantasien übertrifft.»

Ein Leben unter Polizeischutz

Über Jahrzehnte hatten Politik und Medien Einfluss und Existenz der Mafia in Italien verharmlost oder verleugnet. Erst das Wirken des unbeugsamen sizilianischen Starermittlers Giovanni Falcone und seiner Mitstreiter veränderte dies fundamental. Mit dem sogenannten Maxiprozess Mitte der achtziger Jahre gelang es erstmals, Hunderte von Bossen, Auftragskillern und Helfershelfern der Cosa Nostra hinter Gitter zu bringen. Mit Falcone verbindet den Autor Saviano die leidenschaftliche Überzeugung, etwas gegen Verbrechen und Ungerechtigkeit erreichen zu können – unter Einsatz des eigenen Lebens. Saviano selbst lebt seit seinem unerschrocken recherchierten Roman «Gomorrha» (2006), der auch verfilmt wurde, unter Polizeischutz.

In «Falcone» erzählt er auf 540 Seiten in 75 meist kurzen Kapiteln packend von den zehn letzten Lebensjahren des Mafiajägers von 1982 bis 1992: natürlich von dessen Erfolgen, schonungslos aber auch von seinen vielen Niederlagen im Clinch mit trägen oder neidischen Kollegen sowie von Intrigen und politischen Manövern im Justizapparat, die Falcones unnachgiebige Ermittlungsarbeit torpedierten und der Mafia in die Hände spielten. Obwohl akribisch dokumentiert, ist der Roman kein trockener Report, sondern ein mit literarischen Mitteln prägnant gezeichnetes Porträt des 1939 in Palermo geborenen Juristen, den der Autor auch in privaten Momenten mit Freunden oder mit seiner Frau, Francesca Morvillo, zeigt.

Als Lesende beginnen wir rasch, mit dem Unermüdlichen zu bangen und zu hoffen – stets aufs Schlimmste gefasst und dann doch wieder von der Todesmaschine der Killer des Mafiaclans der Corleonesi überrumpelt. Nahezu jedes Mal, wenn im Buch Akteure auftreten – Richter, Staatsanwälte, Journalisten –, die mit ihrer Arbeit die Kreise der Cosa Nostra stören könnten, steht am Kapitelende der nüchterne Bericht von der Ermordung der Betreffenden.

Erst das von Falcone forcierte Zusammenwirken verschiedenster Instanzen – der Einbezug von Wirtschaftsdelikten in die Untersuchung der Bandenmorde und die Einbindung ehemaliger hochrangiger Mafiosi als reuige Kronzeugen – führt zum Erfolg des spektakulären «Maxiprozesses»: 1987 werden nach fast zwei Jahren Verhandlung und zahllosen Störmanövern 365 von 475 Angeklagten schuldig gesprochen und zu insgesamt 2665 Jahren Haft verurteilt. Dieser Prozess ist ein Fanal, und die meisten Urteile werden in der Berufung bestätigt. Entscheidend dabei war auch, die Verstrickungen von Politik und Wirtschaft in mafiösen Strukturen hundertfach nachzuweisen.

Der Wert von Savianos Buch liegt in der Verknüpfung von fast obsessiver Faktentreue mit souveräner literarischer Gestaltungskraft. Auch nach drei Jahrzehnten sind längst nicht alle Hintergründe jener Tage aufgeklärt. Umso wichtiger, dass Saviano mit seinem zum 30. Jahrestag von Falcones Ermordung erschienenen Buch vieles vor dem Vergessen rettet und Dinge beim Namen nennt.

Explosion auf der Autobahn

Natürlich war Giovanni Falcone und seinem Freund und Mitstreiter Paolo Borsellino bewusst, dass sie Zielscheiben der Cosa Nostra waren. Schon 1989 entging Falcone nur um Haaresbreite einem Bombenanschlag. Als er am 23. Mai 1992 auf der Autobahn zwischen Palermo und Trapani unterwegs war, explodierte bei Capaci eine Bombe, die in einem Abflussrohr unter der Strasse deponiert worden war. Drei Leibwächter in den Begleitfahrzeugen waren sofort tot, Falcone und Francesca Morvillo starben im Krankenhaus in Palermo. Auftraggeber war Toto Riina, der wohl blutrünstigste und brutalste «capo dei capi». Knapp sechzig Jahre zuvor war er als Zwölfjähriger Zeuge davon geworden, wie die Explosion eines Blindgängers der US-Army seinen Vater und einen Bruder in den Tod gerissen hatte.

Die beiden blutigen Explosionen stehen am Anfang und am Ende des Romans. In Savianos aufwühlendem Buch hat Borsellino das letzte Wort: Falcone stirbt in seinen Armen, und sein Freund würdigt ihn als den, der oft «besiegt, verraten und gedemütigt auf der Strecke» geblieben sei, aber stets «weiter gehofft» habe. «Eine Welt ohne Mafia war seine Idee, die in seiner Brust brannte, und wenn ein Gedanke die Körper beherrscht, die Geister erfüllt, erfüllt er früher oder später auch die ganze Welt. […] Auch er [Borsellino, Anm. d. Red.] hat nie aufgehört, daran zu glauben. Doch jetzt fühlt er sich einsam. Das ist unvermeidlich, es muss so sein, denn der Mut ist einsam», schreibt Saviano. «Solo è il coraggio» – so lautet auch der Titel des italienischen Originals.

Sieben Wochen später wird auch Paolo Borsellino in Palermo durch eine Autobombe getötet.

Buchcover von «Falcone»

Roberto Saviano: «Falcone». Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hanser Verlag. Berlin 2024. 544 Seiten. 46 Franken.