Unruhen in Nicaragua: Knüppel und Eisenstangen reichen nicht mehr
Die Proteste gegen eine Rentenreform stellen das Machtmonopol von Präsident Ortega infrage. Der zeigt kein Bedauern über 25 Tote.
Nie zuvor hat Daniel Ortega Proteste so blutig zusammenschiessen lassen. 25 Tote meldete das regierungsunabhängige Nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte (Cenidh). «Die meisten wurden durch Feuerwaffen getötet, andere durch Gummigeschosse, die sie an empfindlichen Stellen wie der Kehle getroffen haben», sagte Cenidh-Präsidentin Marlin Sierra. Auslöser der Proteste war eine vom Präsidenten per Dekret verkündete Rentenreform, mit der das staatliche Sozialversicherungsinstitut saniert werden sollte.
Im vergangenen wirtschaftlich goldenen Jahrzehnt hatte sich bei der Sozialversicherung Misswirtschaft breitgemacht. Geld war vorhanden, weil Nicaragua tonnenweise Rindfleisch nach Venezuela exportierte und dafür billiges Erdöl bekam. Dieses Geschäft ist mit der Krise in Venezuela zusammengebrochen, die Sozialversicherung steht kurz vor dem Bankrott. Ortega erhöhte deshalb zum 1. Juli die Beiträge der Unternehmen und Beschäftigten von 6,25 auf 7 Prozent des Bruttolohns, die Renten sollten um 5 Prozent gekürzt werden. Im Protest dagegen versammelten sich am Mittwoch vergangener Woche rund 200 Rentner und Studentinnen vor einem Einkaufszentrum in der Hauptstadt Managua.
Der Ruf nach der militanten Jugend
Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo reagierten darauf wie gewohnt: Wenn sich der Unmut nicht mit Sozialprogrammen beruhigen lässt – und solche sind derzeit kaum finanzierbar –, ruft Murillo nach der sandinistischen Jugend aus den Armenvierteln. Diese von ihr aufgebauten Gruppen werden mit Jobs und Sozialleistungen gehätschelt und sind den Ortegas blind ergeben. Wenn sie gerufen werden, gehen sie mit Knüppeln und Eisenstangen gegen DemonstrantInnen vor. Am Mittwoch vergangener Woche aber wuchs die zunächst kleine Demonstration während der Prügeleien schnell an, Ortega schickte schliesslich die Antiaufstandspolizei.
Bisher – etwa bei Demonstrationen gegen einen chinesischen Investor, der Nicaragua mit einem interozeanischen Kanal teilen will – hatte das schnelle Niederschlagen von Protesten das gewünschte Ergebnis: Es herrschte zumindest zunächst wieder Ruhe. Am vergangenen Mittwoch war das nicht der Fall. Die Demonstrationen weiteten sich auf die Provinzstädte aus, Barrikaden aus Autoreifen brannten, in Managua wurden ein paar Supermärkte geplündert. Da nützte es auch nichts, dass Ortega regierungskritische Fernsehsender, die die Unruhen live übertrugen, abschalten liess. Am Wochenende schickte er die Armee auf die Strassen Managuas und der einstigen Sandinistenhochburg Estelí.
«Fehlgeleitet und dumm»
Erst am Samstag wandte sich der Präsident in einer Fernsehansprache ans Volk. Er nahm die Rentenreform zurück, nannte die DemonstrantInnen aber «Unruhestifter und von der Opposition fehlgeleitete dumme Jugendliche», die «das Land destabilisieren» wollten. Zu den Toten sagte er kein Wort. Aber er lud den Unternehmerverband Cosep zu einem «nationalen Dialog» über eine neue Rentenreform ein. Der mächtige Verband gehörte in den sandinistischen Revolutionsjahren von 1979 bis 1990 zu seinen ärgsten Gegnern. Seit Ortega aber 2007 ins Präsidentenamt zurückgekehrt ist, hat er sich mit Cosep sehr gut vertragen: Er liess die Unternehmen nach Belieben schalten und walten; er und seine Frau übten die politische Kontrolle immer selbstherrlicher aus.
Doch diese Teilung der Macht scheint nicht mehr zu funktionieren. Man werde am Dialog nicht teilnehmen, liess der Unternehmerverband verlauten, wenn zuvor nicht alle bei den Unruhen Verhafteten wieder freikämen, die staatliche Repression ein Ende habe und Demonstrations- und Medienfreiheit wieder hergestellt seien. Überhaupt sei ein Gespräch nur gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Gruppen sinnvoll. Auch die DemonstrantInnen wollen trotz zurückgenommener Rentenreform mit denselben Forderungen wie Cosep weitermachen. Der Journalist Carlos Fernando Chamorro, einer der verbissensten Ortega-Gegner, sieht die Proteste als «Wasserscheide», die Ortegas Präsidentschaft «in ein Davor und ein Danach teilt». Der Präsident habe in diesen Tagen «das Monopol der Strasse verloren».