Plädoyer 1: Lyrik: Explosionen auf dem Papier
Ein Gerüst von wenigen Worten – und dennoch kann ein Gedicht alles einfangen.
Poesie ist ein Zauber.
Ich habe keine Ahnung von Lyrik.
Ich bin komplette Lyrikhochstaplerin.
Für mich ist Lyrik die freiste Form des Schreibens.
Ich schreibe Gedichte auf der Schreibmaschine: Jeder Buchstabe knallt unter meinen Fingern, bevor er sich unwiderrufbar ins Papier drückt. Nur das Nötigste kommt in ein Gedicht. Keine Rücksicht auf korrekte Grammatik, Syntax, Satzzeichen; keine Erwartungen von gefüllten Seiten. Jedes Gedicht stellt seine eigenen Regeln auf.
Das gefällt mir.
Ein gutes Gedicht öffnet mit wenigen Worten einen Raum und wirft die Imaginationsmaschine an. Es ist der Zündschlüssel für das Auto, in dem du in deiner bildhaften Gedankenwelt herumfahren kannst. Die einzelnen Wörter sind dabei Pfeile, Wegweiser, in alle erdenklichen Richtungen.
Ein Gedicht ist im besten Fall ein Resonanzraum. Ein Gerüst von wenigen Worten, die durch ihre Anordnung einen Klang erzeugen, der rundherum ausschwingt und Synapsen ankickt, zu versteckt gespeicherten Erinnerungen an Stimmungen und Bildwelten.
Ein Gedicht skizziert den Schauplatz einer Geschichte, von der du nur einen Bruchteil aufblitzen siehst. Von dort aus spinnen sich in deinem Hirn die Fäden selber weiter – die Hintergründe, die Zukünfte, all das passiert bei dir. Ein Gedicht ist der Kern, der dort erblüht, wo es wehtut. Es ist der Splitter, der übrig bleibt, wenn du mit dem Hammer auf die Käseglocke haust.
Ein Gedicht ist ein Destillat. Durch seine Eingekochtheit wird jedes Wort darin essenziell. Dabei wächst dessen Bedeutung in all seinen Eigenschaften: wie es ausschaut, wie es klingt, was es alles bedeuten kann. So rückt es Unscheinbares ins Licht, stellt vermeintliche Banalitäten in den Scheinwerfer, wo sie tanzende Schatten werfen.
Gedichte können flüchtige, scheue Momente fangen – erhabene Wuchten wie zuckende Irritationen. Unbestimmte Stimmungen, die rätselhaft gross erscheinen, kann Poesie singend und triezend umkreisen. Wahrheiten, die zu schwer sind, zu konfus, zu kompliziert, schlicht unmöglich, sie in eine korrekte Form zu bringen: Mit ihnen kann eine Dichterin spielen, ohne sie festzunageln. Selbst Gefühle, so heftig, dass sie unbändigbar scheinen, sterben in Phrasen. Aber mit voller Kraft in kleine Worte gepackt, furchtlos losgeschossen aufs Papier – dort explodierts.
Solche Gedichte schreiben. Das wärs.
Michelle Steinbeck (27) ist Autorin. Demnächst erscheint ihr erster Gedichtband bei Voland & Quist.