Lyrik: Die vielen Personen namens Nora Gomringer

Nr. 32 –

Sie arbeitet als Direktorin einer KünstlerInnenvilla und schreibt daneben noch zahlreiche Bücher und Texte. Zu Besuch bei der Lyrikerin Nora Gomringer, die kürzlich den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat.

Im Unterschied zu anderen LyrikerInnen tritt Nora Gomringer gern und furchtlos auf. Fotos: Judith Kinitz

Die Villa Concordia ist ein üppiges Barockpalais mit bunten Stuckdecken im Innern. Sie steht an einem Seitenarm der Regnitz in der Altstadt von Bamberg. Im ersten Stock des Palais wohnt die Direktorin: Nora-Eugenie Gomringer. Nora heisst sie nach ihrer Mutter, der Germanistin Nortrud, und Eugenie nach ihrem Vater Eugen, Schweizer Schriftsteller, Kunsttheoretiker und Erfinder der konkreten Poesie. «Ich bin komplett meine beiden Eltern», sagt sie, «das ist schon okay so.»

Die Direktorin

Nora-Eugenie Gomringer leitet das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia. In die Villa Concordia und einen weiteren Bamberger Barockpalast lädt der Freistaat Bayern jedes Jahr zwölf KünstlerInnen ein und versorgt sie mit Stipendien, Unterkunft, Ateliers und Wirkungsmöglichkeiten. Die Direktorin betreut die KünstlerInnen und ihre Familien, sucht Krippen und Schulplätze, schlichtet Streitigkeiten, übersetzt bei Behörden, verwaltet Budgets und stellt pro Jahr achtzig bis neunzig Veranstaltungen auf die Beine. Zwar steht ihr ein gutes Team zur Seite, aber sie arbeitet den ganzen Tag und oft auch abends für Veranstaltungen. Nora-Eugenie Gomringer ist eine Idealbesetzung als Direktorin: Sie ist immer genau dann und nur dann da, wenn man sie braucht. Sie engagiert sich leidenschaftlich und pflichtbewusst für ihre KünstlerInnen. Sie hört immer mal wieder die Stimme ihres Vaters: «Grad wenn du Lyrikerin bist, hast du das Privileg, noch einen anderen Beruf ausüben zu können.»

Die Autorin

Und wann, bitte, schreibt diese Frau, die sich als Autorin kürzer Nora Gomringer nennt? Sie hat soeben den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen und schreibt viel: In diesem Jahr publiziert sie sechs Bücher, und im Lauf der nächsten zwei Monate hat sie sechzehn Gebrauchstexte (Vorworte, Essays, Reden und mehr) zu liefern. Sie mag übrigens diese Auftrags- und Anfragetexte: «Ich reagiere gern.»

Wann also schreibt sie? Vor allem im Zug und sehr früh morgens. Für Schlaf bleibt da wohl nicht viel Zeit. Sie trinkt auch keinen Tropfen Alkohol. Und für Künstlerallüren hat sie erst recht keine Zeit. Sie erstellt Zeitpläne, achtet auf Effektivität und Nachhaltigkeit. Das Handwerk des Schreibens ist bei ihr total «entromantisiert», sagt sie. Im Gespräch aber wirkt sie locker und scheint für den Journalisten, der sie besucht, so viel Zeit zu haben, wie der nur will.

Die Tochter

Nora Gomringer erinnert sich an ein altes, kaltes Bauernhaus in einem abgelegenen oberfränkischen Dorf namens Wurlitz. Der einzige warme Ort war das Badezimmer, und dort sass sie vor der Heizung, während die Mutter in der Badewanne lag, schaumbedeckt, Zigaretten mit einer Spitze rauchend, und ihr Märchen vorlas. Der Vater hat nicht vorgelesen, sondern vorgetragen. Jede Woche fuhr die Familie mit Nora durch die Lande zu den Orten, wo er Vorträge hielt.

Und nach den Märchen kamen die Gedichte: amerikanische und englische Klassiker, Balladen, Edgar Allen Poe, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler. Nora wollte Rezitatorin werden. Von Heinrich Heine konnte sie ungefähr hundert Gedichte auswendig.

Aber ein Landkind in den achtziger Jahren schaute vor allem fern und jubelte, weil es schon bald mehr als drei Stationen gab. Nächtens lief David Lynchs Serie «Twin Peaks». Nora sah darin das eigene Dorf im Spiegel einer Mystery- und Horrorgeschichte. Noch folgenreicher war der Film «An Angel at My Table», die Lebensgeschichte der neuseeländischen Dichterin Janet Frame. «Als ich diese Frau gesehen habe», sagt Nora Gomringer heute, «die mir auch äusserlich so ähnlich war, da hab ich gedacht: Es wäre möglich, man könnte Schriftstellerin sein. Und dann fiel mir auf: Mein Vater war es ja auch.»

Die lange Phase der elterlichen Ehekrise beschreibt Nora Gomringer als Seesturm. Zwei Meeresungeheuer bekämpfen sich und peitschen die Wellen. Im kleinen Boot, vom Untergang bedroht, sitzt das Kind und sagt: «Hallo, ich bin auch noch da.»

In dieser Zeit hatte sie ihre religiöse Phase. Sie war Ministrantin, kämpfte sich vom Land in die Stadt zum Firmungsunterricht, wollte Nonne werden. Als Lebensversicherung trug sie oft dünne Bücher in der Tasche. Sie hatte von Siegfried gehört: Durch das Bad in Drachenblut war er unverwundbar geworden am ganzen Körper ausser an einer kleinen Stelle, auf die ein Lindenblatt gefallen war. Sie selber trug Reclam-Bändchen am Körper, und wo das Büchlein auflag, fühlte sie sich durchlässig, verwundbar und zugleich geschützt.

Die Darstellerin

Nora Gomringer unterhält sich gern mit Leuten. Sie investiert sich in Gespräche, malt Szenen aus, ist begeisterungsfähig. Wenn der Besucher eine Äusserung tut, die ihr gefällt, ruft sie ihrer Assistentin zu: «Dem Mann bitte Blumen schicken, wenn er abgereist ist!»

Im Unterschied zu vielen anderen LyrikerInnen tritt sie gern und furchtlos auf, interessiert sich für ihr Publikum und findet es notwendig, beim Schreiben auch an das Publikum zu denken. Gegen die Idee vom ewig unverstandenen Genie, das nur sich selbst ausdrückt, äussert sie sich drastisch: «Ausdruck, sagt der Mann und meint eine Art Ejakulat. Dann sitzt da ein mehrheitlich weibliches Publikum und lässt sich von dem Genius beregnen. Ich mache viel demütiger eher so» – sie verbeugt sich leicht und streckt beide Arme vor, wie ein Händler, der einen kostbaren Stoff anbietet – «hier, nehmt, ich habe mir alle Mühe gegeben.»

Gomringers Interesse für prägnante Vermittlung, ihr Sinn für Dramaturgie und ihre Freude an Sprechinszenierungen stammen aus der Zeit ihrer Poetry-Slam-Phase zwischen 2001 und 2006. Sie sei eine «aufgeräumte Slammerin» gewesen, sagt sie, allerdings waren ihre Erziehung und ihre Absichten zu klassisch, um dauerhaft in dieser Szene zu bleiben.

Gomringer rezitierte schon in der Schule vor der Klasse gern auswendig gelernte oder gut vorbereitete Texte, aber spontan und unvorbereitet neue Texte vorlesen, das konnte sie nicht. Da fühlte sie sich «sabotiert durch ein komisches, inneres Bild, nämlich dass mir jemand beim Sprechen ein Holzstäbchen zwischen den Zähnen durchzieht. Ich kann bis heute kein Eis am Stiel essen. Ich finde die Vorstellung schrecklich, wirklich widerlich.» Gegen diese Vorlesehemmung erfand sie eine effektive Selbsttherapie: Sie las sich nachts immer die Bibel vor, weil sie dachte, dabei müsse ihr doch Gott helfen.

Die Lyrikerin

Gomringer inszeniert sich gern und gut: Mit bunten Klamotten, kräftigen Klunkern – und mit Gedichten! Sie komme aus der Hip-Hop-Kultur, sagt sie, und habe schon deshalb keine Hemmungen, ein Ich zu nutzen, sei es nun biografisch besetzt oder nicht. In ihren Lesungen spaltet sie sich in viele Personen auf, die alle «ich» sagen können: Da ist eine Person namens N. G. physisch anwesend, die von einer anderen Person namens N. G. erzählt, die wiederum von einer dritten Person gefragt wird: «Was macht ein Gedicht aus?» Die letzte Zeile des Gedichts lautet: «Nora Gomringer macht das Gedicht. Aus.»

Derart raffiniert-leichtfüssige Wendungen und die Brillanz ihrer Auftritte haben Gomringer den Vorwurf eingetragen, ihre Texte seien zu nett und lediglich Hilfsmittel für ihre Performances. Beides ist falsch. Die Texte sind auf Eigenständigkeit und Langlebigkeit hin angelegt, und sie sind weder gefällig noch durchweg leicht verständlich. Viele sind düster. Wer Gomringers Texten und ihren sonstigen Äusserungen genauer zuhört, spürt im Hintergrund Unruhe und Unglück. Sie kämpft um ein Bewusstsein ihres Alters – mit 35 ist man weder alt noch jung. Sie ist oft unzufrieden mit ihrem Körper, kennt Liebesleid, Einsamkeit, Verletzungen aller Art. Sie ringt um Ausdruck für ihre Empörung über Gesellschaft und Politik.

Was sie allerdings auszeichnet, ist ihr tiefes Vertrauen in die Sprache. Und die Selbstverständlichkeit, mit der sie Literatur und Kunst als natürlichen Teil des Lebens sieht. In einem ihrer Gedichte sagt sie:

«Ich mache das nicht zum Vergnügen
Das Auflösen in Sprache
Wie eine Tablette
Und vor ihr der Schmerz
(…)»

Nora Gomringer tritt am 8. August 2015 in 
Winterthur im Park der Villa Jakobsbrunnen auf. 
www.lauschig.ch

Nora Gomringer: «achduje». Verlag Der gesunde Menschenversand. Luzern 2015. 152 Seiten. 23 Franken.

Nora Gomringer: «Morbus». 25 Gedichte. Mit CD und Illustrationen von Reimar Limmer. Verlag Voland & Quist. Dresden und Leipzig 2015. 64 Seiten. 26 Franken.